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Jack Holborn unter den Freibeutern

Jack Holborn unter den Freibeutern

Titel: Jack Holborn unter den Freibeutern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Garfield
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Morris. Stoße ihm einen Marlspieker für mich in den Rücken, wie? Recht so, Morris.«
    Als er zur Bestattung an Deck kam, war er kalt
    und ernst und entrückt, und ich fühlte, daß Mord
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    oder Erlösung ihm nicht mehr bedeuteten, als das
    Zwinkern eines geistigen Auges.
    Eine der Backbordkanonen war weggerückt wor-
    den, und Mister Taplows Leiche lag auf einem durch
    das Schießloch geschobenen Brett, um in das dunkle
    Meer versandt zu werden. Mr. Pobjoy hatte ihn mit
    ein paar gewichtigen Töpfen beschwert, die in der
    Kombüse nicht gebraucht wurden, auf daß er auf
    dem Meeresgrund in Frieden ruhen könnte.
    Alle Mann waren auf Deck, denn es war eine au-
    ßergewöhnliche Gelegenheit, diese feierliche Zurruhe-legung. (Viel wurde später davon hergemacht und
    viele Dinge vorgebracht.)
    Sich vorsichtig vorwärtstastend, Mister Morris an
    seiner Seite, kam der Kapitän zu der Leiche. Er stellte den Stock vor sich und legte beide Hände darauf;
    dann mit gespitztem Mund und blinzelnden Augen
    sprach er von Mister Taplows Chancen für den
    Himmel. Sie waren nicht sehr groß. »Gleichviel«,
    sagte er, »die schwärzeste Seele kann dorthin empor-steigen und, wenn sie vor dem Tode bereute, einge-
    lassen werden. Auch so eine wie diese.«
    Er sah hinauf und dann hinunter, als wolle er die
    Entfernung messen. Ich glaubte, er lächelte, aber Mister Pobjoy schwor, daß sein Ausdruck während der
    ganzen Sache starr der gleiche blieb.
    »Und so überantworte ich dich der Tiefe«, sagte
    er, »und möge Gott deiner Seele –«
    Bevor er aussprechen konnte, machte das Deck ei-
    nen plötzlichen Satz, als ob die Charming Molly
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    die Schultern gezuckt hätte, und Mr. Taplows Leiche rutschte von der Planke und in ein Wellental. Ich sah ihn fallen, denn der Sack zerriß und sein rotes Haar leuchtete einen Augenblick, bevor es im Wasser verlöschte wie ein Licht im Wasser.
    »– deiner Seele gnädig sein.« Aber der Kapitän
    kam zu spät. Mister Taplow war ungesegnet davon-
    gegangen. Ein sehr unheilschweres Schweigen folgte
    diesem Unglücksschlag. Dann ganz plötzlich ertönte
    die Stimme des Holländers von oben: »Der Segel!
    Wieder der Segel! Sehr niedrig in Wasser. Der Segel!«
    Die Esperance. Noch mit uns in dem eisernen
    Wind. Mister Trumpet sah mit schnellem, ungläubi-
    gem Lächeln von Taplows Grab hoch, und der Geist
    des Schiffes erhellte sich auch, denn die Sicht eines anderen Schiffes vertrieb ein wenig die Einsamkeit …
    Aber das dauerte nicht sehr lange. Das Wetter ver-
    schlechterte sich schon, als wir da standen, und bald rief der Holländer herunter: »Nein! Nix! Nil!«

    Als wir vor dem mächtigen Wind dahinflogen, dachte
    ich an die gespenstisch auftauchende Esperance –
    wenn sie es gewesen war – und daß sie sehr bald,
    vielleicht jetzt schon, über Mister Taplows Grab sein und er einen Augenblick dem näher sein würde, wo-für er gestorben war.
    In der Nacht des fünften Tages nach seiner Bestat-
    tung, als sich der Sturm gedreht hatte, um uns einen Punkt weiter nach Süden zu verschlagen, kam Taplow zurück. Nachher wurde behauptet, es hätte an
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    jenem Tag, bevor das Licht verdämmerte, seltsame
    Schauspiele am Himmel gegeben: gehörnte Untiere,
    sich klammernde Hände und ein Schiff unter vollen
    Segeln.
    Dann sah der Holländer wieder die Esperance ein
    paar Minuten nach Mittag. Sie lag niedriger im Was-
    ser als zuvor und ihre Marssegelrahen schienen den
    Wellen preisgegeben. Aber trotzdem schien sie mit
    uns mitzuhalten, als sei ihr Geschick dasselbe wie unseres, wohin uns auch unser endloser, südwestlicher Kurs bringen mochte. Später erinnerte man sich auch der wirklichen Esperance genau wie der im Himmel:

denn sie schien immer aufzutauchen, bevor uns ein
    Unheil widerfuhr.
    Es war Mister Jarvis, der ihn sah, kurz nach Mit-
    ternacht, wie er an der Backbordreling entlangging.
    Er erschien mit dem Mond, der aus den wirbelnden
    Wolken herausflog. Er war noch in seinem verschos-
    senen rotweißen Hemd, das er bis zu seinem Tod ge-
    tragen hatte. Und danach. Und ein Loch war in sei-
    nem Rücken, zwischen den Schultern, wo der
    Marlspieker reingefahren war.
    »Er war es, sage ich euch. Er war es.«
    Ich habe nie einen so erschreckten Mann gesehen
    wie Jarvis in jener Nacht. Ich dachte, er würde daran sterben. Seine Augen quollen aus dem Kopf, und sein pockennarbiges Gesicht zuckte die ganze Zeit. Als die Laterne am Vorderdeck schwang, starrte er unverrückt in die Schatten, als ob

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