Jack Holborn unter den Freibeutern
der Dunkelheit.
»William Hughes! Bist du da, alter Freund?«
»Hier, Mister Trumpet. Hier! An der Spitze des
Vorderdecks! Hockend wie eine Kröte auf einem
schwitzenden, nassen Stein. Nichts zu sehn, nichts zu hören.«
Wie nahe an Mitternacht wußte keiner mehr, außer
daß es einige Zeit war, bevor der heiße Wind begann …
»William Hughes! Was tut sich? Ist was zu sehen?
Es ist eine häßliche, unheimliche Nacht, und ich dachte, ich hörte etwas –«
»Nichts rührt sich, Sam Fox. Nichts als das klebri-
ge Dunkel. Aber warte, was ist da unten? Nein,
nichts. Augen spielen einem dumme Streiche … Gute
Nacht, Sam Fox – obwohl es gar keine gute Nacht ist und ich hoffe, nie wieder ihresgleichen zu sehen.«
Dann war es – oder kurz danach –, daß der heiße
Wind anfing zu wehen, der die Segel mit Seufzen und Ächzen füllte und uns durch die Finsternis trieb. Vielleicht herrschte draußen fünf Minuten lang Schreien, bevor ich sie klar hören konnte.
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»William Hughes! William Hughes! Antworte,
Mann! William Hughes, wo bist du?«
William Hughes war fort.
Ich stürzte hinaus aufs Deck, und der heiße Wind
schlug mir ins Gesicht wie eine Lohe aus der Schmie-deesse. Ich traf Mister Pobjoy, dessen panische Augen auf mich niederglitzerten.
»Jetzt ist die Hölle los, Jack, und das ganze Schiff ist ihr zu eigen.« Er stolperte vorbei in die Kombüse, quiekend und grunzend wie ein erschrecktes Schwein.
»Gott gnade Pobjoy.«
Taplows Zeichen war gekommen.
Während wir in der Flaute lagen, war die schwarze
Wolke über uns gekrochen. Wir waren gefangen.
Riesige Regentropfen hatten angefangen, herunterzu-
pladdern, und schwache Blitze flackerten über die
Masten und verwandelten die Segel in bauchige Ge-
spenster.
Und die ganze Mannschaft, wie Blätter vom Wind
gefegt, wurde zum Vorderdeck gewirbelt in einer vom Terror mörderisch gemachten Einheit. Die Stimme des toten Mannes kreischte im Wind. Die Augen des toten Mannes flammten im Blitz, und die Wut des toten Mannes brüllte im Donner: »Rächt mich, oder ihr segelt in die ewige Verdammnis. Tötet den Kapitän!«
Ich hatte den verzweifelten Gedanken, ihn zu war-
nen, kam aber zu spät. Schon stieß der Blitz, Strahl auf Strahl, in das Herz der Wolke, daß sie sich zu
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winden begann wie etwas Lebendes, während die See
sich türmte, ihr zu begegnen. Jetzt endlich waren wir in das schwarze Herz des Sturmes gefallen, vor dem
wir uns von Anfang an so entsetzt hatten.
Dies war das Ende, das Ende der Charming
Molly und der Mörder, die darauf fuhren: von Mi-
ster Clarke und Sam Fox und ihrem habgierigen Haß,
von Mister Pobjoy und seiner Ginsucht, von Mister
Morris und Mister Solomon Trumpet, vom seltsamen
Kapitän – und das Ende von Jack Holborn, der mit
großen Hoffnungen an Bord gekommen war, dem sie
zerstoben, in den Himmel gehoben waren, nur um
auf den Grund des unsichtbaren, tobenden Meeres zu
sinken.
Hinunter stürzten die Masten und hoch bäumte
sich das Deck, bis es stand wie eine triefende Mauer, dann seitlich und rund, als empöre es sich gegen jedes Lebewesen, das auf ihm stand, und wolle es abschütteln. Verrückte Molly! Schreckliche Molly! Tolle
Molly!
Jetzt begannen die Blitze mit furchtbarer Eindring-
lichkeit hin und her zu zucken und hinunter in das
gebirgige Meer. Durchnäßte, wilde Gesichter sah ich, die von den Wanten starrten, die ins Wasser getaucht wurden und dann hochflogen zum rasenden Himmel.
Suckling und Jarvis klammerten sich Arm an Arm
und an einen eisernen Ring am Hauptmast.
Ihre Münder waren weit offen und schwarz vor
Gebrüll, ihre Beine schwangen und zappelten, als die Welt versuchte, sie auszulöschen. Dann wurden sie
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weggewischt, denn das Schiff sprang und knisterte,
als ein Strahl den Fockmast traf und ihn zu einer rau-chenden, zeltförmigen Ruine zertrümmerte.
Ich verlor meinen Halt an einem Vertäuungsseil
und flog übers Deck zur Backbordreling. Sam Fox
war da, aufgerichtet vor mir, vom Blitz weiß ver-
sengt. Ich krachte gegen seine scharrenden Füße, aber er sah mich nicht.
»Taplow!« schrie er und schlug die Hände vor die
Augen. Seine Füße reichten nicht aus, ihn zu halten.
Ich fühlte sie sich verschränken, um sich treten, sich heben, und sah seine nackten Sohlen über Bord fliegen.
Dann entdeckte ich Taplows Geist. Er kam die Re-
ling entlang, mit flatterndem rotweißem Hemd, den
großen Kopf in einem rostbraunen Lumpen
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