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Jack Holborn unter den Freibeutern

Jack Holborn unter den Freibeutern

Titel: Jack Holborn unter den Freibeutern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Garfield
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gerufen.
    »Augen nach Steuerbord!« Der Schrei kam von
    oben. Der Holländer war noch auf dem Quermast.
    Fast geschunden von den wilden Wogen klammerte
    er sich dort fest.
    »Augen nach Steuerbord. Steuerbord! Steuer-
    bord!«
    Nicht mehr als hundert Meter entfernt war der
    wildeste Anblick, den man sich denken kann. Ein an-
    deres Schiff unter schlagenden, zerfetzten Segeln hielt auf uns zu.
    »Steuerbord! Steuerbord!« schrie der Holländer,
    aber es war keiner mehr da, der ihm willfahren konn-te. Die Charming Molly war auf Todeskurs, und
    weder das Geheul des Holländers noch Mister Mor-
    ris, der am Steuer riß, konnten sie davon abbringen.

    Von dem Augenblick, in dem die Esperance gesich-
    tet wurde (denn es war dieses unheilvolle Schiff, das aus dem Dunkel kam wie die entfesselte Rache) bis
    zum fürchterlichen Augenblick, als sie uns rammte,
    hätte man langsam etwa bis zwanzig zählen können.

    Die Charming Molly machte einen verzweifelten
    Satz, als wolle sie entrinnen. Aber die riesige und verkommene Esperance, deren Rahen und Schot-91
    horn-Verankerung seltsam phosphoreszierten, richte-
    te sich steil vor unserem Steuerbord auf. Dann fiel sie nieder und schlug zu.
    Etwa vier Yards hinter mittschiffs fuhr ihr eisenbeschlagener Bug der Charming Molly in die Seite,
    unterhalb der Wasserlinie. Ihr nackter Bugspriet schlitz-te die Wanten mit einem Rasseln weg wie Musketen-
    feuer, dann reckte sie sich mit einer steigenden Welle und zerdrückte uns wie ein Ei.
    Obwohl ihr Fockmast brach und in einem kra-
    chenden Gewirr von Segeltuch und Tauen in die Tiefe taumelte, wurde sie von ihrem großen Gewicht und
    der wilden See weitergetrieben. Unsere Planken bar-
    sten auseinander, und selbst unser großer Hauptmast wurde (zum ersten Mal seit seiner Errichtung) bis
    zum untersten Ende bloßgelegt. Da seine Stützen zer-trümmert waren, brach er und riß sich aus seinem
    Bett im Kiel los.
    Dann begann der Rumpf der Esperance, gezackt
    und geborsten, wo die Charming Molly ihn geküßt
    hatte, furchtbar zu beben, als bereue sie, was sie getan hatte. Sie begann, sich empor zu heben und zu
    steigen und versperrte mächtig ragend und schwarz,
    alle Sicht auf den speienden Himmel. Lautes Saugen
    und Knistern ertönte unter ihr – laut genug, um das Dröhnen von See und Wind zu übertönen. Das Wasser schien zu sieden, als sie fortfuhr, sich hochzu-bäumen, und der Lebensodem aus unserem aufgesto-
    ßenen Laderaum herausfuhr. Gleichzeitig trafen unter dem Wasser uns vier oder fünf große Hammerschlä-
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    ge, und im nächsten Moment rollten alle Wasser der
    Welt fort von uns.
    Große Wogen brausten und donnerten, um uns zu
    entgehen, als hätten wir etwas Furchtbares getan.
    Wellenberge und -täler fielen übereinander in entsetzlicher Eile und überließen uns dem Verderben.
    Diese ungeheure Wirkung war von der Unterströ-
    mung des Meeres selbst verursacht, die sich in entgegengesetzter Richtung bewegte wie die wilde Ober-
    fläche und die hilflosen Kiele mit sich gezerrt hatte, bis das Doppelwrack in seinem heillosen Gewirr
    donnernd unterseeische Klippen rammte.
    Wir waren gestoppt, und die See stürmte wild vor-
    bei. Strömungen wie sie uns erfaßten, fließen mit
    großer Kraft durch unterseeische Klippen, denn die
    nicht wechselnde Flut zwingt das Wasser durch enge
    Öffnungen und Tunnel, bis es eine unglaubliche Ge-
    walt entwickelt, gegen die selbst Sturmwinde macht-
    los sind. Mochten sie auch rasen, der Sturm und die beißenden Wellen hatten keine Macht mehr über uns.
    »Laß locker! Laß locker!«
    Mister Trumpets Stimme: wie zehntausend Meilen
    entfernt. Er muß minutenlang geschrien haben, bevor ich ihn hörte. Ich sah, daß mein Fuß tief in seinen Ellbogen vergraben war, und er war hinter der Treppe zum Achterdeck festgenagelt. Ich machte Platz,
    soviel ich es wagte, und er kroch vorsichtig neben
    mich – als fürchte er, uns vom Felsen wieder flottzumachen und zurück in das schmetternde Meer zu
    treiben.
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    »Wenn der Wind nachläßt – sind wir gerettet.«
    Seite an Seite lagen wir und starrten empor zur
    überhängenden Masse der Esperance, die riesig wie
    ein zweiter Himmel, immer und immer wieder von
    den mächtigen Wogen überspült wurde. Wir waren
    von dem lauten Krachen der auseinanderbrechenden
    Schiffe und vom mächtigen Atem des Sturmes be-
    täubt und benommen. Es schien, als könne man nie
    wieder einen anderen Laut vernehmen, und doch war
    der Ton, den wir beide jetzt hörten, leise

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