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Jack Holborn unter den Freibeutern

Jack Holborn unter den Freibeutern

Titel: Jack Holborn unter den Freibeutern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Garfield
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und
    schwach.
    Es war ein Kribbeln an der Holztäfelung hinter
    uns: eine Art panisches Kratzen.
    Durch ein triefendes Fenster im Achterdeck sah ich
    den Kapitän. Sein Gesicht, verschwommen und weiß,
    war gegen das Glas gepreßt.
    Das gesamte Achterdeck war von den schlimmsten
    Verwüstungen des Sturmes und des Schiffbruchs ver-
    schont geblieben, und er hatte das Ganze überlebt.
    Hinter ihm, im Winkel zwischen Fußboden und
    Wand lag Mister Morris – ebenfalls noch am Leben,
    aber verletzt: seine Hände waren über der Brust ge-
    faltet.
    Mister Trumpet stemmte die Tür auf: eine giganti-
    sche Kraftleistung.
    »Glücklich, daß ich euch gehört habe … Glücklich,
    daß ich hörte … Ihr seid jetzt in Sicherheit … Ihr seid gerettet, Gott sei Dank habe ich gehört, euch gerettet …«
    »Gerettet?« ächzte der Kapitän ärgerlich. »Kommt
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    selber rein aus der Nässe. Ich habe versucht, euch
    beide hier in Sicherheit zu bringen, seit ihr gefallen seid. Uns gerettet – lächerlich!«

    So waren wir vier also übrig, um die Nacht zu über-
    stehen, die einundvierzigste, seit uns die Sturmwolke verfolgte. Was aus den anderen geworden ist, weiß
    ich nicht. Die ich untergehen sah, von denen habe ich erzählt: ich glaube, der Rest war in den Wanten und dicht unter dem Holländer. Sie müssen über Bord gegangen sein, als der Hauptmast brach. Ob vielleicht einige zu einer Insel getrieben oder von einem vorbei-fahrenden Schiff aufgefischt wurden? Kaum wahr-
    scheinlich. Das Meer war in jener Nacht zu hungrig, um selbst diese schlimmen Brocken zu verschmähen.
    Ich glaube, sie sind jetzt alle mit Taplow vereint. Und Gott – wahrhaftig – weiß, wo der sein mag.
    Wir kauerten, ohne zu sprechen, dicht um den ver-
    letzten Mister Morris. Er hatte schwere Verstauchungen erlitten, als ihm das Steuerrad in der Hand zer-splitterte, und der Kapitän hatte ihn in Sicherheit geschleppt. Jetzt knurrte er ein wenig vor Schmerz, aber sonst schien es ihm leidlich zu gehen. So atmeten wir also tief und dankbar und hielten durch die immer
    wieder überspülten Bullaugen Ausschau, ob die Wut
    der Nacht nicht etwas nachließ.
    Das geschah bei Tagesanbruch. Nach und nach
    legte sich der Wind und mit ihm das große Meer.
    Dann ging die Sonne auf in einem reinen Himmel
    und zeigte uns etwas Wundersames. Ostwärts sahen
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    wir durch die Öffnung, die der Zusammenstoß in die
    Esperance geschlagen hatte, die Größe des Riffs, auf dem wir gestrandet waren.
    Es hob sich aus dem Meer wie ein gebogenes
    Rückgrat, das in den dunstigen Glanz eines Strandes überging – wir befanden uns nicht weiter als hundert Yards von der Küste entfernt.
    Die kräftige Sonne war zu hell, um mehr als eine
    von hohen Bäumen umgebene weiße Mulde zu zei-
    gen. Aber es war genug.
    Als wir uns etwas erholt hatten, schickten wir uns
    an, die Kajüte der Charming Molly zu verlassen,
    wobei wir, auf den Rat von Mister Morris, die Ge-
    brauchsgegenstände mitnahmen, die den Sturm über-
    dauert hatten.
    X
    Mister Trumpets Traum, der erst kürzlich zum Alp-
    traum geworden war, die Esperance, hing riesig und
    schwarz über uns. Muschelschalen aus den fernsten
    Weltmeeren überkrusteten ihren Rumpf. Mister Mor-
    ris, der sorgfältige und reinliche Seemann, betrachtete sie abfällig. Mehrere schwarzgebleckte Felszähne
    trennten sie von uns und zerrissen ihre Planken – die ihrerseits warnend ächzten, da sie am Bersten waren.
    Keine Lebewesen befanden sich an Bord. Das war
    schon in dem Augenblick ersichtlich, als unsere Füße über das hohle Deck schlurften. Sie war ein totes
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    Schiff, glühend tot unter der unbarmherzigen Sonne.
    Obwohl wir sie durchsuchten, wußten wir, daß es
    keinen Sinn hatte. Nichts Lebendes war übrig. Was
    aus ihrer Mannschaft geworden sein konnte, ahnte
    nur Mister Trumpet. Er sagte, es sei ein Beiboot an Bord gewesen. Vielleicht waren alle, die von der
    Mannschaft noch lebten, wegen einem Sturmschaden
    hineingeklettert und trieben nun auf dem Ozean …
    »Sich in diesem Wetter einem offenen Boot anver-
    trauen? Verrückt!«
    »Schon gut, schon gut«, murmelte Mister Trum-
    pet.
    »Was macht das jetzt noch aus? Sie sind fort, und
    wir sind am Leben. Das ist das Ende davon. Aber ich glaube, sie sind mit der Pinasse davon. Ich habe sie gekannt, sage ich euch … drei ganz besonders … und
    ich glaube, sie haben die Weiße Lady mitgenommen.
    Und jetzt ist sie auf ewig verloren. Hol sie der Satan.«
    Wir kamen gerade aus der

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