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Jack Holborn unter den Freibeutern

Jack Holborn unter den Freibeutern

Titel: Jack Holborn unter den Freibeutern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Garfield
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keinen Zugang gibt. Und ist er auch nur
    einen Yard entfernt, so liegen doch Länder und Wäl-
    der hinter seinen alltäglichen Augen, in denen kein anderer Mensch jemals wohnen wird. Wunder sieht
    er mit dem inneren Auge – und reist zehntausend
    Meilen in dem Hohlraum eines Kürbis. »Seht Euch
    an, Sir! Alle die Herrlichkeiten, Fürsten, Juwelen Indiens: dort! In dem Raum hinter meiner linken Au-
    genbraue!«
    »Was war das?« Mister Trumpets Augen flamm-
    ten. »Dieses Blitzen! Dieses Glitzern! Es war die Wei-
    ße Lady! Ich weiß es! Ich kenne ihre Farbe. Sie war es! Dort!«
    »Mister Trumpet! Kommen Sie zurück. Es war
    nichts. Mondlicht auf dem Wasser. Nicht mehr, kom-
    men Sie zurück. Es gibt dort Schlangen und wilde
    Tiere!«
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    Meine Schreie weckten die anderen. »Was ist los?
    Wo ist er hin?«
    Wir hörten ihn rascheln und umherstampfen, wobei
    er uns manchmal zurief, ihm zu folgen, oder fluchte, wenn sich sein Fuß verfing oder er sich das Gesicht zerkratzte. Mister Morris war dafür, an Ort und Stelle zu bleiben, wir würden ihn nie in der verfilzten, verrä-
    terischen Finsternis finden. Bis zur Dämmerung war-
    ten. Warten, bis er zurückkommt. Wenn sich Men-
    schen verlaufen, drehen sie sich immer im Kreis …
    Aber Lord Sheringham erwog voller Furcht die Aus-
    maße dieses Kreises. Er konnte tagelang unterwegs sein
    … mehr Tage, als er Kräfte hatte … er war immer
    noch krank … wir konnten ihn nicht im Stich lassen …
    »Morris! Morris! Jack!« kam Mister Trumpets
    Stimme mit unheimlichem Echo. »Hierher! Lord She-
    ringham! Die Weiße Lady! Sie ist hier!«
    Damit begann unsere große Panik, etwa zwei
    Stunden vor dem Dämmerlicht. Mister Morris wurde
    überstimmt, wir sammelten unsere Habseligkeiten
    und gingen Mister Trumpets Rufen nach. Zuerst gin-
    gen wir langsam, wagten nicht, uns zu trennen, und
    beantworteten seine Rufe mit »Hier! Hier!« oder
    »Bleib, wo du bist. Bleib still, und wir kommen!«
    Dann rannten wir gegen Baumstämme und Ge-
    sträuch, da seine Stimme von allen Seiten rings um
    uns zu kommen schien.
    »Jack! Morris! Jack! Lord Sheringham!« heulte und
    winselte es im dichten Dunkel, zuweilen über, zuweilen hinter und dann vor uns, da der Ton von der Luft 143

    selbst zurückgeworfen zu werden schien. (Ich glaube nicht, daß einer von uns zu jener Zeit eine Ahnung
    hatte, was passierte: ja, es dauerte Tage, bevor wir es sicher wußten …)
    Verzweifelt hielten wir uns zusammen, denn die
    Wirkung des Irren, der in der Nacht geisterte, war
    unsagbar beängstigend. Zu Zeiten schien es sechs
    oder sieben Mister Trumpets zu geben, die der Reihe nach jeden von uns riefen, und dann ein anderer, etwas vor uns, der rasend durch das Unterholz brach
    und dabei fluchte und wütete.
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    Ich weiß nicht mehr, wer sich als erster von uns
    verlor. Plötzlich hörte ich die Stimme von Mister
    Morris viel weiter entfernt, als ich es für möglich gehalten hätte: die Stimme von Mister Morris, der
    meinen Namen schrie.
    Ich packte krampfhaft Lord Sheringhams Hand –
    und zog daran, bis er rief: »Um Himmels willen, Jun-ge – was ist los?«
    Und ich fand, daß ich Mister Morris bei der Hand
    hielt.
    »Wo ist Lord Sheringham?«
    »Hier.«
    Er war hinter mir.
    Das war der erste von einem halben Hundert
    Scherzen des üblen Waldes: Scherze, die uns stol-
    pernd und blindlings ungesehene Hänge hinaufhetz-
    ten, uns gegen Bäume rennen ließen, bis uns die Au-
    gen überliefen und die Schrammen Landkarten auf
    unsere Haut zeichneten; sie legten uns längelang über Wurzeln und Ranken und verwandelten uns schließ-
    lich in drei schiffbrüchige Narren, die etwa eine
    Stunde vor Morgengrauen die verzweifelt umklam-
    merte Hand des anderen losließen.
    Mister Morris rief mich immer wieder. Zunächst
    versuchte ich noch, auch Lord Sheringham zu ant-
    worten, aber seine Stimme schien schwerer zu orten, und ich fand, daß ich zwischen den beiden meine
    Kräfte verschwendete. Also verschloß ich die Ohren
    gegen alles, außer der Stimme von Mister Morris, deren man mit größerer Leichtigkeit sicher sein konnte, 145
    weil er die Angewohnheit hatte, zu husten, wenn er
    erregt war.
    Ich traf auf ihn, umrißhaft auf einer Lichtung; er
    stand, als befände er sich noch auf dem Achterdeck –
    Beine gespreizt, hohle Hand am Mund und rief:
    »Jack Holborn! Jack! Jack! An Deck, Junge!«
    Dann sah er mich. »Jack! Wo zum Teufel bist du
    gewesen?«
    Er war wütend, und das schreckte mich aus

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