Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jack Holborn unter den Freibeutern

Jack Holborn unter den Freibeutern

Titel: Jack Holborn unter den Freibeutern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Garfield
Vom Netzwerk:
meiner
    Angst vor der Nacht und den widerhallenden Stimmen.
    »Mister Morris, Sir … Entschuldigen Sie … ich
    habe mich verloren …«
    »Jack! Morris! Lord Sheringham! Die Weiße Lady!
    Hier!«
    Wieder Mister Trumpets Stimme, irgendwo vor
    uns. Das erste Mal, daß wir ihn seit fast einer Stunde hörten. Dem Klang nach war er nicht weiter als
    zwanzig Yards entfernt. Ich versuchte, ihm zu folgen, als Mister Morris mich fluchend aufforderte stehen-zubleiben. Sagte, ich würde mich wieder verirren.
    Sagte, ich sei auf falschem Kurs. Sagte, er hätte Bewegung zur Rechten gehört, ganz gleich, wo die
    Stimme herkäme.
    »Trumpet. Komm schnell. Ich glaube, wir haben –«
    Sicher war das wieder Lord Sheringham – zwanzig
    Yards vor uns? Und abermals hielt mich Mister Mor-
    ris zurück.
    »Die Weiße Lady!«
    Wo war Lord Sheringham jetzt? Wo war er? Und
    was hatte er gefunden?
    146
    »Wo seid ihr? Wo seid ihr?«
    Mister Trumpet klang plötzlich näher als sonst –
    und rechts von uns. Wir hörten ihn straucheln und
    fallen: dann endlich taumelte seine halb sichtbare Gestalt an uns vorbei.
    »Trumpet!« schrie Mister Morris und stürzte,
    mich an der Schulter mitzerrend, ihm nach.
    »Die Weiße Lady! Hier! Trumpet! Morris! Jack!«
    Wie fremd Lord Sheringhams Stimme klang: dünn und
    erregt.
    »Die Weiße Lady!« kreischte Mister Trumpet –
    und wir fielen über ihn, als er sich über seinen bösen Schatz beugte. Er hatte ihn im Schmutz des Waldbodens gefunden!
    Als ich in die weichende Dunkelheit blickte, dachte ich einen einzigen Augenblick an Mister Trumpets
    Traum: die Kinder – die stets folgenden, stets wachenden Kinder mit ihren brennenden schwarzen Augen.
    Und ich dachte, daß sie böswillig durch die Blätter und Zweige und wechselnden Schatten niederblickten: spähten und über den kranken Mann lachten, der
    über dem steinernen Wunsch seines Herzens keuchte.
    »Lord Sheringham!« rief Mister Morris leise.
    »M’lord!«
    Aber es erfolgte keine Antwort. Wir sahen einan-
    der an.
    »Lord Sheringham! Lord Sheringham!«
    Selbst die Echos waren verschwunden.
    »Kapitän!« schrie Mister Morris. »Kapitän, wo
    sind Sie?«
    147
    Er holte Atem und erlitt einen Hustenanfall. Dann
    schrie ich – und auch meine Stimme erstarb in der
    vollkommenen Stille, die sich über den Wald gesenkt hatte. Bald darauf kam der Morgen, und wir wußten,
    daß wir ihn verloren hatten.
    Es gab keine Spur, kein Zeichen, wo er gewesen
    oder was aus ihm geworden war. Wir suchten nach
    Kleiderfetzen, Spuren eines Kampfes, Blut: wir fan-
    den nichts. Es war, als hätte er außerhalb unserer
    Köpfe nie existiert. Dies war also der erste unserer zwei Verluste im Wald: plötzlich und erschreckend.

    Nach dem ersten hektischen Schreien und Suchen sa-
    ßen wir wie gelähmt beieinander, fuhren bei jedem
    Blätterrascheln hoch und glaubten in dem Schrillen
    und Zwitschern der Morgenvögel sein entferntes Ru-
    fen zu hören.
    Als es Mittag wurde, hatte das Gesicht von Mister
    Morris eine graue Farbe angenommen, aber er war
    entschlossen.
    »Wir müssen weiter«, sagte er. »Dagegen hilft
    nichts.«
    Mister Trumpet sah von seinem verfluchten Edel-
    stein auf. »Das kann dein Ernst nicht sein, Mann.
    Wir können ihn nicht im Stich lassen.«
    »Glaubst du, ich will ihn hier im Stich lassen?
    Wenn es eine Chance gäbe – eine noch so kleine
    Chance. Wenn ich glaubte … würde ich … Wir müs-
    sen weiter«, endete er brüsk, starrte auf seinen Kom-paß und dann auf den düsteren Weg vor uns.
    148
    »Hör zu, Morris«, sagte Mister Trumpet, indem er
    zum ersten Mal die Weiße Lady wegsteckte. »Hör zu.
    Dies war meine Schuld. Ich weiß es. Ich hab’s verursacht. Wenn ich – und das meine – nicht wären, dann wäre er noch hier. Also – nimm du Jack, und geh
    weiter. Ich warte und suche. Ich werde ihn finden.
    Ich fühle es: ich weiß es. Geht weiter mit Jack, Morris. Geh auf die Spitze von deinem Berg.«
    »Spiel vor mir nicht den Helden, Trumpet«, ant-
    wortete Mister Morris kalt. »Du kommst mit Jack

und mir. Du bist ein kranker Mann, nicht imstande,
    dich zu ernähren, geschweige denn, den Kapi – Lord
    Sheringham zu finden.«
    Statt aufzubrausen, wie er’s noch vor zwei Tagen
    getan hätte, zeigte sich Mister Trumpet demütig und senkte den Kopf.
    »Morris«, bat er, »Morris, alter Freund, laß uns
    dann alle bleiben. Laß uns alle warten, nur noch einen Tag …«
    Aber der Meister schüttelte den Kopf. Wir könnten
    nicht bleiben.

Weitere Kostenlose Bücher