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Jack Holborn unter den Freibeutern

Jack Holborn unter den Freibeutern

Titel: Jack Holborn unter den Freibeutern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Garfield
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Es gab keine Nahrung in diesem Teil
    des Waldes. Wir konnten uns nicht auf das verlassen, was wir erlegen würden: nicht mehr. Wir müßten in
    eine Gegend vordringen, wo die Sonne durchschien
    und eßbare Früchte reifen ließ.
    »Aber – wenn er zurückkommt und uns nicht fin-
    det?«
    »Er kommt nicht zurück.« Mister Morris meinte,
    was er sagte: kein Zweifel. Und seine Stimme war
    hart wie Stein.
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    »Großer Gott«, brach Mister Trumpet los, »du
    kannst einen lebendigen Menschen nicht so preisge-
    ben wollen.«
    Worauf Mister Morris erwiderte: »Hast du ihn nicht gehaßt? Warst du nicht einmal … zweimal bereit, ihn zu töten?«
    »Aber unser Bund, Morris. Der Bund! Wir haben
    alle von vorn angefangen. Die Vergangenheit ist nicht mehr.«
    »Er auch nicht. Damit ist nun Schluß.«
    Jetzt ermannte sich Mister Trumpet und bewies ein
    Maß an Mut und Zorn, das ich an ihm noch nicht er-
    lebt hatte.
    »Ich bin entschlossen, Morris. Du und Jack müßt
    allein gehen, ich bleibe, bis ich ihn finde. Ich tue keinen Schritt mehr mit euch.«
    »Ich –«, begann Mister Morris, wurde aber durch
    einen Hustenanfall am Weiterreden gehindert. Als er fertig war, spuckte er aus und wischte sich den
    Mund. »Wenn du nicht kommst, Trumpet, schieße
    ich dir eine Kugel durch den Kopf. Das schwöre ich.«
    Er hatte eine Pistole in der Hand und legte sehr genau an. Warum war er so erpicht, daß Mister Trum-
    pet mitkam? Weiß der Himmel!
    Also gab Mister Trumpet nach, denn er sagte sich
    wohl, daß ein wehes Herz einem Loch im Kopf vor-
    zuziehen sei.
    Und wir brachen wieder auf, wir einsamen drei,
    und Mister Trumpets Geister waren inzwischen so
    gehoben, daß er beim Gehen sang – oder so glaubte
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    ich, bis ich begriff, daß er sang, um Lord Shering-
    ham, wo immer der jetzt sein mochte, zu leiten.
    Kehr’ ich doch wieder,
    fahr’ ich auch tausend Meilen oder mehr.
    XV
    Er war also weg. Zwei oder vielleicht drei Tage lang konnte ich es nicht glauben. Es schien nicht denkbar, daß er nicht direkt hinter mir war – oder vor mir –
    und mit Mister Morris sprach … oder sonstwo: nur
    gerade außer Sicht – für den Augenblick entrückt …
    »Wenn ich nur bis Hundert zählen kann, ohne
    mich umzudrehen«, versprach ich mir hoffnungslos,
    »dann ist er zurück. Und dann, wenn ich die Hundert erreichte, wagte ich mich nicht umzudrehen und zähl-te weiter bis zur nächsten Hundert – und verfluchte mich, weil ich zu lange wartete.«
    So trieb ich mich die ersten drei Tage voran, hielt mich davon ab, Mister Morris und Mister Trumpet
    zu verlassen und zurück in den Wald zu flüchten, um zu finden, wo er lag, meine Hand auf sein stilles Herz und mein Ohr auf seine stummen Lippen zu legen –
    und zu fragen, wohin sein Versprechen und mein Ge-
    heimnis entschwunden seien.
    Tausend Vorwände fand ich, um den kleinen Mei-
    ster, der unbarmherzig vorwärtsstapfte, zu verlang-
    samen: mein Fuß war verstaucht, ein Stechen in der
    Seite, ich war zu Tode erschöpft und konnte nicht
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    weiter, ich hatte etwas gehört – etwas gesehen – der Teufel wußte was! – wir mußten unbedingt anhalten.
    »Halten Sie doch an, Mister Morris, Sir. Um Him-
    mels willen, halten Sie doch wenigstens für fünf Minuten!«
    Aber er tat es nicht. Er wußte sehr genau, warum
    ich bat. Daher begann ich ihn zu hassen, weil er zwischen mich und den Wunsch meines Herzens trat:
    und der grausige Kampf zwischen uns zog und
    streckte sich über verzweifelte Tage, nahm mit der
    Sonne zu und mit der Nacht ab – wenn selbst er ru-
    hen mußte. Dann saß er da, ein Klumpen Stacheln
    und Entschlossenheit, und starrte auf seinen Kom-
    paß, der seine Seele zu enthalten schien, und danach hinauf ins Dunkel, das wir am nächsten Morgen
    durchstoßen mußten.
    Es war, glaube ich, am vierten Tag, daß ich das
    Zählen aufgab und damit einen großen Teil meiner
    Hoffnung. Danach begnügte ich mich, Mister Morris
    mit verbissener Erbitterung zu folgen, und fand, daß er langsam vorwärtskam. Nicht um alles in der Welt
    wäre ich an jenen Tagen zurückgegangen oder zu-
    rückgefallen. Ich wollte nichts anderes, als diesem üblen Wald und seinem unendlichen, endlosen Grün
    entkommen.
    Daher war nun Mister Trumpet an der Reihe, ein
    langsameres Tempo zu fordern – da er noch nicht
    völlig genesen war –, obwohl er sein unveränderliches Lied so laut sang, wie er konnte.
    »Spar dir den Atem fürs Gehen«, knurrte Mister
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    Morris, aber Mister Trumpet sang

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