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Jack Holborn unter den Freibeutern

Jack Holborn unter den Freibeutern

Titel: Jack Holborn unter den Freibeutern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Garfield
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das
    heiterste im Park begegneten.
    Von allen Zeiten ist mir diese am schönsten in Er-
    innerung: zwar ist der Inhalt unseres Gesprächs fast völlig vergessen, aber wir hatten eine solche Lust
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    daran, miteinander frei und offen zu sein, als sei das Herz ein Besitz, der nur durch die Mitteilung wertvoll wurde …
    Ich glaube, es war Mister Morris, der sagte, wir al-le schienen neugeboren – oder etwas dergleichen –
    und daß der Sturm und Schiffbruch unsere Vorge-
    schichten weggekappt und uns, gewaschen und unge-
    beugt, an diesen wilden und schönen Platz geführt
    hätte. Dann brach er mit einem Hustenanfall, der
    durch das Fleisch verursacht war, ab, und es blieb
    Mister Trumpet überlassen, den nächsten Schluß zu
    ziehen, daß wir nämlich jetzt die Chance hatten, unser Leben von neuem zu beginnen und von nun an
    Wohlgefallen an einander zu finden.
    Aber die Schatten verdichteten sich wieder. Lord
    Sheringham, der zunächst zustimmte, machte Vorbe-
    halte geltend. Gern, so sagte er, vergäße er die Vergangenheit eines Mannes, sofern der Mann sie selbst vergessen könne. Aber solange er sich erinnere, erinnere er auch die Welt.
    Dazu senkten wir alle die Augen, und Lord She-
    ringham – Gott weiß warum! – flüsterte: »Weiße La-
    dy … Weiße Lady …«
    Ein unruhiger Blick trat in Mister Trumpets Au-
    gen, als wolle er sich an etwas erinnern, das sich ihm entzog.
    »Wißt ihr«, sagte er stockend. »Ich hatte einen
    Traum. Einen ungereimten, mit keinem Ort verbunde-
    nen Traum von ein paar schwarzäugigen Kindern …«
    Wir hielten alle den Atem an, als Mister Trumpet
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    nachsann. »Es ist mir jetzt fast entfallen, aber es beunruhigt mich wie ein Zahn, der anfangen wird zu
    schmerzen.«
    Obwohl wir ja jetzt wußten, daß er den Verlust
    früher oder später entdecken würde, war es furchtbar ihm zuzusehen, wie er dem Augenblick der Entdek-kung immer näher taumelte. Schon flackerten Blicke
    über sein Gesicht, verschwistert den hurtigen, scharfen, von denen ich gehofft hatte, daß sie endgültig der Vergangenheit angehörten. Seine Augen verschwam-men zwischen Erinnerung, Traum und Argwohn …
    »Sie wollten sie, versteht ihr … mit Macht. Ich
    konnte es erkennen … es kehrt zurück … es kehrt zu-
    rück …«
    Er rieb sich mit der erdigen Hand über die Stirn
    und hinterließ dort über dem Auge und die Wange
    hinunter häßliche Striemen. »So wirklich … so ganz
    wirklich … ich könnte beinahe …« Er griff nach sei-
    nem Juwelenbeutel. »Ich – ich muß nachsehen … Es
    ist eine – eine Besessenheit von mir. Ich weiß, aber ich muß nachsehen –«
    Er begann ängstlich die Stirn zu furchen, als er in seinem Beutel fummelte und dann in seinem Hemd
    und der Hose. Unter meinem Blick schien sein Ge-
    sicht zu schrumpfen und zu erbleichen, und die drei schwarzen Linien wurden blutig wie Striemen von einer Peitsche. Er scharrte ohne Vertrauen in der aufgewühlten Erde, hielt dann inne und sah zu uns allen empor. Man muß ihm zugute halten, daß er eine Art
    Lachen zustandebrachte.
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    »W-wer von euch hat’s getan, nun? Ein – ein
    Scherz? Ha! Ha! Ich – ich hab’ ihn gut aufgenom-
    men, nicht? Ein Scherz! Schön – gebt ihn jetzt her –
    Freunde!«
    Er wandte sich an mich, Mister Morris, Lord She-
    ringham, flehentlich, obwohl er immer noch versuch-
    te zu lächeln. Er versuchte, in unseren Augen zu lesen, beobachtete unsere Lippen, um zu sehen, ob wir sein Lächeln beantworteten: erwartete ein Zucken,
    ein Glänzen, das verraten würde, daß wir schauspie-
    lerten, einen großen Ulk abzogen.
    Aber er sah nichts davon: nur Mitleid. Er konnte
    es nicht glauben. Er begann wieder, sich selbst zu
    durchsuchen, dann den Boden um sich herum, und
    blickte schnell mit Augen auf, die voller Verzweiflung waren und voller Anklage. Wo war nun sein Traum
    und der von Mister Morris, von neuem geboren zu
    werden?
    »Trumpet, Mann«, begann Mister Morris, aber
    Mister Trumpet wandte sich ihm in einer Wut zu, als sei er zwischen ihn und seinen verfluchten Diamanten getreten.
    »Glaubst du, einer von uns hätte ihn gestohlen?«
    stieß Mister Morris hervor. Er warf beim Sprechen
    einen raschen Blick auf Lord Sheringham. »Dein
    Stein ist – verloren!«
    »Verloren!« schrie Mister Trumpet. »Was soll das
    heißen: verloren? Wie kann er – verloren sein? Hat er Beine, Hände, die Kraft sich zu bewegen? Kann er
    auf eigene Faust davongehen? Kann er sich ver-
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    schwinden lassen? Ist er

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