Jack McEvoy 01 - Der Poet
Laurie Prine sei einfach ein Irrtum unterlaufen. Ich dachte, sie habe mir einen Artikel übermittelt, der nichts mit meinem Thema zu tun hatte und der vielleicht von jemand anders in der Rocky angefordert worden war.
Es war ein Bericht über einen Mann, der verdächtigt wurde, ein Zimmermädchen in einem Motel in Hollywood ermordet zu haben. Ich war schon im Begriff, die Lektüre abzubrechen, doch dann stieß ich auf Horace Gombles Namen. In dem Artikel hieß es, der Mann, der im Verdacht stand, das Zimmermädchen ermordet zu haben, hätte zusammen mit Gomble in Raiford eingesessen und ihm sogar als >Knastanwalt< bei nicht näher beschriebenen juristischen Formalitäten geholfen. Ich las den Text noch einmal, weil mir ein Gedanke im Kopf herumging, der schließlich immer festere Gestalt annahm.
Nachdem ich den Laptop ausgeschaltet hatte, wählte ich abermals die Nummer von Rachels Piepser. Diesmal zitterten meine Finger, als ich die Zahlen eintippte, und danach konnte ich kaum stillsitzen. Ich starrte unentwegt das Telefon an. Schließlich läutete es, und ich riss sofort den Hörer hoch.
»Rachel, ich glaube, ich habe etwas!«
»Hoffentlich ist es keine Syphilis, Jack.«
Es war Greg Glenn.
»Ich dachte, es sei jemand anders. Hören Sie, ich erwarte einen Anruf. Es ist sehr wichtig!«
»Vergessen Sie’s, Jack. Das hier geht vor. Sind Sie bereit?«
Ich sah auf die Uhr. Es war zehn Minuten nach dem ersten Redaktionsschluss.
»Okay, ich bin bereit. Je schneller, desto besser.«
»Zuerst einmal, gute Arbeit, Jack. Das ist ... nun ja, es ist keine vollständige Entschädigung dafür, dass wir nicht die Ersten waren, aber es ist wesentlich besser geschrieben und enthält wesentlich mehr Informationen.«
»Okay, also was gibt es noch daran zu tun?«, fragte ich rasch.
Seine Mischung aus Vorwurf und Kompliment interessierte mich nicht. Ich wollte einfach fertig sein, wenn Rachel sich meldete. Da es in meinem Zimmer nur eine Telefonleitung gab, konnte ich meinen Laptop nicht mit der Rocky verbinden und die revidierte Version des Artikels lesen. Stattdessen holte ich mir die ursprüngliche Fassung auf den Bildschirm, und Glenn las seine Änderungen vor.
»Ich wollte den Aufmacher etwas kürzer und konzentrierter und zudem etwas mehr Gewicht auf das Fax legen, und das ist dabei herausgekommen. »Die rätselhafte Botschaft des Serienkillers, der scheinbar wahllos Kinder, Frauen und Detectives von Mordkommissionen umbringt, wurde am Montag von FBI-Agenten analysiert. Sie ist der neueste Hinweis bei den Ermittlungen über den Mörder, den sie den Poeten nennen.< Wie finden Sie das?«
»Gut.«
Er hatte das Wort >studiert< durch >analysiert< ersetzt. Es lohnte das Protestieren nicht. Wir verbrachten die nächsten zehn Minuten damit, die Hauptstory durchzugehen und hier und da kleine Änderungen vorzunehmen. Der zweite Artikel war ein kurzer, in Ichform geschriebener Bericht darüber, wie mein Versuch, den Selbstmord meines Bruders zu begreifen, zur Entdeckung der Spur des Poeten geführt hatte. Glenn hatte nichts daran auszusetzen. Als wir fertig waren, forderte er mich auf, am Apparat zu bleiben, während er die Artikel in die Redaktion übermittelte.
»Vielleicht sollten wir die Leitung offen halten, für den Fall, dass Sie noch auf etwas stoßen«, sagte Glenn.
»Wer macht die Schlussredaktion?«
»Brown hat den Hauptartikel und Bayer den anderen. Das Korrekturlesen werde ich selbst übernehmen.«
Ich war in guten Händen. Brown und Bayer waren zwei der besten Schlussredakteure.
»Und was planen Sie für morgen?«, fragte Glenn, während wir warteten. »Ich weiß, es ist noch reichlich früh, aber wir müssen auch über die Wochenend-Ausgabe sprechen.«
»Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.«
»Sie müssen einen Folgeartikel schreiben, Jack. Irgendetwas. Wir können nicht mit dieser Geschichte groß rauskommen und dann am nächsten Tag mit leeren Händen dastehen. Das Thema muss weiterverfolgt werden. Und zwar an diesem Wochenende. Ich hätte gern eine atmosphärische Sache. Sie wissen schon, mit dem FBI auf der Jagd nach einem Serienmörder, vielleicht etwas über die Persönlichkeiten der Leute, mit denen Sie es zu tun haben. Außerdem brauchen wir Fotos.«
»Ich weiß, ich weiß«, sagte ich. »Ich habe einfach noch nicht darüber nachgedacht.«
Ich wollte ihm nichts von meiner jüngsten Entdeckung und der neuen Theorie erzählen, die mir im Kopf herumging. Es war gefährlich, einem Redakteur
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