Jack McEvoy 01 - Der Poet
wusste nicht, wo ich ihn unterbringen sollte. Die Tür von Zimmer 303 ging auf, noch ehe ich den Griff berührt hatte. Ein Mann von ungefähr vierzig Jahren verharrte auf seinem Weg nach draußen.
»Sind Sie der Mann von der Rocky ?«
»Ja.«
»Ich wollte gerade nachschauen, ob Sie irgendwo falsch abgebogen sind. Kommen Sie doch herein. Ich habe nur ein paar Minuten Zeit. Ich bin Mike Warren. Michael, wenn Sie meinen Namen in einem Artikel verwenden wollen, aber mir wäre lieber, wenn Sie es nicht täten und stattdessen mit anderen Leuten in diesem Hause reden würden. Vielleicht kann ich Ihnen ja dabei behilflich sein.«
Sobald er sich hinter seinem Schreibtisch niedergelassen hat te, stellte ich mich vor, und wir gaben uns die Hand. Er forderte mich auf, Platz zu nehmen. Auf der einen Seite seines Schreibtischs stapelten sich Zeitungen. Auf der anderen Seite standen Fotos von einer Frau und zwei Kindern, gut sichtbar für Warren und seine Besucher. Auf einem niedrigen Tisch links neben ihm stand ein Computer, und an der Wand darüber hing ein Foto von Warren, wie er dem Präsidenten die Hand schüttelte. Warren war rasiert und trug ein weißes Hemd mit einer kastanienbraunen Krawatte. Der Kragen war an der Stelle, an der sein Nachmittagsbart dagegenscheuerte, ein bisschen abgeschabt. Sein Jackett hing über der Lehne seines Stuhls. Warrens Haut war sehr blass und bildete einen scharfen Kontrast zu den intelligenten dunklen Augen und dem glatten schwarzen Haar.
»Also, was liegt an? Gehören Sie zum Washingtoner Büro von Scripps?«
Er sprach von unserem Dachverband. Dieser unterhielt in Washington ein Büro mit Reportern, das sämtliche angeschlossenen Zeitungen mit Storys aus Washington versorgte. Es war das Büro, von dem Greg Glenn zu Beginn der Woche gesprochen hatte.
»Nein, ich komme aus Denver.«
»Also, was kann ich für Sie tun?«
»Ich muss mit Nathan Ford sprechen oder vielleicht mit jemand anders, der mit der Untersuchung über die Polizisten- Selbstmorde befasst ist.«
»Polizisten-Selbstmorde. Das ist ein Projekt des FBI. Oline Frederick ist bei uns dafür zuständig.«
»Ja, ich weiß, dass das FBI beteiligt ist.«
»Einen Moment.« Er griff nach dem Telefonhörer, doch dann ließ er ihn wieder los. »Sie haben nicht vorher angerufen, oder? Ihr Name ist mir unbekannt.«
»Nein, ich bin gerade erst in Washington eingetroffen. Es geht um eine brandheiße Story, kann man sagen.«
»Eine brandheiße Story? Polizisten-Selbstmorde? Das hört sich nicht gerade an, als müsse sie noch gestern fertig werden. Weshalb die Eile?«
Plötzlich fiel mir ein, wer er war.
»Haben Sie nicht für die L. A. Times gearbeitet? Im Washingtoner Büro? Sind Sie der Michael Warren?«
Er lächelte.
»Stimmt. Woher wissen Sie das?«
»Ich lese sie seit Jahren. Daher kenne ich den Namen. Ihr Ressort war das Justizministerium, stimmt’s? Sie haben gute Sachen geschrieben.«
»Bis vor einem Jahr. Seitdem bin ich hier.«
Ich nickte. Es trat immer ein Augenblick unbehaglichen Schweigens ein, wenn man jemanden wiedertraf, der die Seite gewechselt hatte. Gewöhnlich waren das Ausgebrannte, Reporter, die es satt hatten, ständig unter Termindruck zu arbeiten, ständig Storys produzieren zu müssen. Ich habe einmal ein Buch über einen Reporter gelesen, der das Journalistenleben so beschrieb, als müsse man ständig vor einer Dreschmaschine herrennen. Ich fand dieses Bild sehr treffend. Manchmal haben die Leute es satt, vor der Maschine herzurennen, und manchmal werden sie auch hineingezerrt und zerfetzt. Andere wiederum schaffen es, ihr rechtzeitig zu entkommen. Sie benutzen ihre Berufserfahrung für die Suche nach einem ruhigen Job, bei dem sie die Medien manipulieren können, anstatt ein Teil von ihnen zu sein. Das war es, was auch Warren getan hatte, und irgendwie tat er mir Leid. Er war verdammt gut gewesen. Ich hoffte, dass er nicht das gleiche Bedauern empfand.
»Vermissen Sie es?«
Ich fragte nur aus Höflichkeit.
»Noch nicht. Hin und wieder taucht eine gute Story auf, und dann wünsche ich mir, ich säße noch mit all den anderen zusammen, auf der Suche nach dem ungewöhnlichen Blickwinkel. Aber es kann einen kaputtmachen.«
Er log, und ich glaube, er wusste, dass ich es wusste. Er wollte liebend gern zurück.
»Ja, das Gefühl habe ich auch manchmal.«
Ich erwiderte die Lüge, nur damit er sich besser fühlte.
»Also, was ist mit den Polizisten-Selbstmorden? Worauf wollen Sie hinaus?«
Er schaute
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