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Jack McEvoy 01 - Der Poet

Jack McEvoy 01 - Der Poet

Titel: Jack McEvoy 01 - Der Poet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Connelly
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Walling erzählt hatte.
    »Oh, verdammt, ich ... Ach, ich glaube, das macht nichts. Niemand wird meine Telefonrechnung überprüfen. Schließlich habe ich ja keine Staatsgeheimnisse verraten.«
    »Das kann ich nicht beurteilen. Sie kennen diese Leute besser als ich.«
    »Zerbrechen wir uns darüber nicht den Kopf. Was haben Sie gefunden?«
    »Ich sagte es bereits, ich bin noch dabei. Ich habe ein paar Fälle gefunden, die ins Bild passen könnten.«
    »Gut. Ich freue mich, dass es das Risiko wert war.« Ich nickte, doch dann wurde mir klar, dass er das nicht sehen konnte.
    »Nochmals vielen Dank.«
    »Dann überlasse ich Sie jetzt wieder Ihrer Lektüre. Vielleicht können Sie mich morgen ja über den neuesten Stand informieren.«
    »Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist, Michael. Ich glaube, wir sollten jedes Aufsehen vermeiden.«
    »Na schön, wie Sie meinen. Vermutlich werde ich ohnehin alles eines Tages lesen können. Haben Sie schon einen Ablieferungstermin?«
    »Nein. Darüber haben wir überhaupt noch nicht geredet.«
    »Netter Chef. Na dann, viel Erfolg.«
    Bald war ich wieder in die Worte des Dichters versunken. Poe war ein Meister der Stimmung und des Tempos gewesen. Eine düstere Stimmung, ein stürmisches Tempo. Ich ertappte mich dabei, wie ich die Worte und Redewendungen auf mein eigenes Leben übertrug. >Ich weilt’ allein / in Welten voll Pein<, hatte Poe geschrieben. >Meine Seele ein regloses Meer.< Worte, die, jedenfalls im Augenblick, auf mich gemünzt zu sein schienen.
    Ich hatte bald das Gefühl, ganz im Banne der Melancholie des Dichters zu stehen, vor allem bei den Strophen von >Der See<.
    Doch wenn die Nacht warf ihr Gewand
    auf jenen Fleck wie alles Land,
    und der Wind strich lau vorbei,
    mystisch murr‘nde Melodei,
    dann - ah dann - erblickt’ ich jäh
    den tiefsten Schrecken am einsamen See.
    Poe hatte meine eigene entsetzliche, immer wieder aufflackernde Erinnerung beschrieben. Meinen Albtraum. Er hatte über anderthalb Jahrhunderte hinweg nach mir gegriffen und mir seine kalten Finger auf die Brust gelegt.
    Tod war in der finstern Schlucht,
    in gift’gen Wellen eine Gruft.
    Ich beendete die Lektüre des letzten Gedichts um drei Uhr in der Frühe. Ich hatte nur eine weitere Übereinstimmung zwischen den Gedichten und den Selbstmord-Botschaften gefunden. Die Zeile von Detective Garland Petry - >Wohl weiß ich genau, meine Kraft ist besiegt.< - entstammte einem Gedicht mit dem Titel »Für Annie<.
    Aber für die letzten Worte, die Beltran, der Detective in Saratoga, angeblich hinterlassen hatte, fand ich keine Quelle. »Gott helfe meiner armen Seele.« So hatten die Worte gelautet. Inzwischen nahm ich an, dass es das letzte, inbrünstige Gebet eines zum Selbstmord entschlossenen Mannes gewesen war. Ich strich Beltran also von der Liste, studierte noch einmal meine Notizen, während ich gegen den Schlaf ankämpfte, und kam zu dem Schluss, dass der Fall McCafferty in Baltimore und der Fall Brooks in Chicago so viele Ähnlichkeiten aufwiesen, dass man sie nicht ignorieren konnte. Ich wusste, was als Nächstes zu tun war. Ich würde nach Baltimore fliegen.
    In jener Nacht träumte ich wieder. Den einzigen Albtraum, der in meinem Leben immer wiederkehrte. Ich träumte, dass ich auf einem riesigen zugefrorenen See herumwanderte, blau-schwarzes Eis unter meinen Füßen. In allen Richtungen war ich gleich weit von Nirgendwo entfernt, und alle Horizonte waren grellweiß. Ich senkte den Kopf und ging weiter und weiter. Mein Schritt wurde erst langsamer, als ich die Stimme eines Mädchens hörte. Ein Hilfeschrei. Ich schaute mich um, aber es war nichts zu sehen. Ich ging weiter. Einen Schritt. Zwei Schritte. Da kam plötzlich eine Hand aus dem Eis hervor und packte mich. Zerrte mich auf das größer werdende Loch zu. Wollte sie mich hinunterziehen, oder versuchte sie, sich selbst zu befreien? Ich habe es nie erfahren. Sooft ich diesen Traum auch träumte, ich habe es nie erfahren.
    Alles, was ich sah, waren die Hand und der schlanke Arm, die aus dem schwarzen Wasser kamen. Ich wusste, dass die Hand der Tod war. Dann wachte ich auf.
    Das Licht und der Fernseher waren noch eingeschaltet. Ich setzte mich auf, zuerst orientierungslos, bis mir wieder einfiel, wo ich war und was ich dort tat. Ich wartete darauf, dass die Kälte nachließ. Dann stand ich auf, schaltete den Fernseher aus, ging zur Minibar, löste das Siegel und öffnete die Tür. Ich entschied mich für eine kleine Flasche Amaretto. Ich

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