Jack McEvoy 05 - Unbekannt verzogen
Wiederkehr.
Ich würde nur gern wissen, wo du wohnst, weil ich dich hier schon vier Nächte lang nicht mehr am Amalfi gesehen habe.
So kann das nicht mehr weitergehen, Henry. Wir müssen reden, aber du bist nie zu Hause, um zu reden. Muss ich etwa ins Labor kommen, um über uns zu reden? Das wäre doch sicher traurig.
Er erinnerte sich, dass er nach dieser E-Mail nach Hause gekommen war, um zu reden, und dass das zu ihrer ersten Trennung geführt hatte. Er verbrachte vier Tage in einem Hotel, in denen er aus dem Koffer lebte und sie per Telefon, E-Mail und Blumen umzustimmen versuchte, bis er schließlich eingeladen wurde, zum Amalfi Drive zurückzukehren. Es folgten aufrichtige Bemühungen seinerseits. Er kam mindestens eine Woche lang jeden Abend spätestens um acht nach Hause, doch dann wurde er wieder rückfällig, und seine Laboraufenthalte begannen erneut, sich bis in die frühen Morgenstunden hinein zu ziehen.
Pierce schloss die Nachricht und dann die Datei. Er hatte vor, eines Tages sämtliche E-Mails auszudrucken und sie wie einen Roman zu lesen. Er wusste, es würde die sehr banale, sehr unoriginelle Geschichte eines Mannes, der wegen seiner Obsession das verlor, was ihm am wichtigsten war. Wenn es ein Roman wäre, würde er ihn Die Jagd nach dem Dime nennen.
Er kehrte zur gegenwärtigen E-Mail-Liste zurück, und die nächste Nachricht, die er las, war von seinem Partner Charlie Condon. Es war nur eine Wochenenderinnerung an die für nächste Woche geplante Präsentation, als ob Pierce daran erinnert werden müsste. In der Betreffzeile stand »Re: Proteus«, denn es war die Antwort auf eine E-Mail, die Pierce Charlie einige Tage zuvor geschickt hatte.
Mit God bereits alles klargemacht. Er kommt am Mittwoch für den Zehnuhrtermin am Donnerstag. Die Harpune ist gewetzt und wurfbereit. Dass du bloß da bist.
CC
Pierce hielt es nicht für nötig, darauf zu antworten. Es war eine Selbstverständlichkeit, dass er da sein würde. Davon hing eine Menge ab. Nein, davon hing alles ab. Der God in der E-Mail war Maurice Goddard. Er war ein New Yorker Investor, von dem Charlie hoffte, dass er ihr Wal würde. Er kam an die Westküste, um sich vor Ort über das Proteus-Projekt zu informieren, bevor er eine endgültige Entscheidung traf. In der Hoffnung, seine letzten Zweifel auszuräumen, würden sie ihm erste Einblicke in Proteus gewähren. Am darauf folgenden Montag würden sie es zum Patent anmelden und sich auf die Suche nach anderen Investoren machen, falls Goddard nicht bei ihnen einstieg.
Die letzte E-Mail, die er las, war von Clyde Vernon, dem Sicherheitschef von Amedeo. Pierce glaubte, schon bevor er sie öffnete, zu wissen, was darin stand, und er hatte sich nicht getäuscht.
Versuche, Sie schon die ganze Zeit zu erreichen. Wir müssen über Nicole James sprechen. Bitte rufen Sie mich baldmöglichst an.
Clyde Vernon
Pierce wusste, dass Vernon wissen wollte, wie viel Nicole wusste und wie es zu ihrem abrupten Ausscheiden gekommen war. Vernon wollte wissen, welche Maßnahmen er ergreifen müsste.
Der Umstand, dass der Sicherheitschef seinen vollständigen Namen geschrieben hatte, entlockte Pierce ein süffisantes Grinsen. Danach beschloss er, keine Zeit mehr mit den anderen E-Mails zu verschwenden. Er machte den Computer aus und zog vor allem auch die Telefonleitung heraus. Er verließ das Büro und ging an der Ruhmeswand im Flur vorbei zu Nicoles Büro. Zu ihrem ehemaligen Büro.
Pierce hatte die Hauptkombination für alle Türen im zweiten Stock. Damit öffnete er jetzt die Tür und betrat das Büro.
»Licht«, sagte er.
Aber die Deckenbeleuchtung reagierte nicht. Der Audiorezeptor des Büros war noch auf Nicoles Stimme eingestellt. Das würde wahrscheinlich am Montag geändert werden. Pierce ging zum Wandschalter und machte das Licht an.
Die Schreibtischplatte war leer. Sie hatte gesagt, sie wäre bis Freitag fünf Uhr weg, und sie hatte ihr Versprechen gehalten. Wahrscheinlich war das Verschicken der E-Mail an ihn ihre letzte Amtshandlung bei Amedeo Technologies gewesen.
Pierce ging hinter den Schreibtisch und setzte sich in ihren Sessel. Er konnte immer noch einen Anflug ihres Parfüms riechen – ein Hauch von Flieder. Er öffnete die oberste Schublade. Bis auf eine Heftklammer war sie leer. Nicole war weg. So viel stand fest. Er sah in die anderen drei Schubladen, und bis auf eine kleine Schachtel, die er in der untersten fand, waren sie alle leer. Er nahm sie heraus
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