Jack McEvoy 05 - Unbekannt verzogen
Er hängte den Kleiderbügel wieder an seinen Platz und kehrte ins andere Schlafzimmer zurück. Das Bett stimmte nicht. Es hatte nicht wie das auf dem Foto ein Messinggestell. In diesem Moment wurde ihm klar, was nicht stimmte, was ihm an der Adresse in Venice komisch vorgekommen war. Ihre Anzeige. Darin hatte Lilly gesagt, sie würde Kunden in einem sauberen und sicheren Stadthaus in der Westside empfangen. Das war kein Stadthaus, und es war das falsche Bett. Das hieß, es gab in Verbindung mit Lilly Quinlan eine andere Adresse, die er noch herausbekommen musste.
Pierce zuckte zusammen, als er aus dem vorderen Teil des Hauses ein Geräusch hörte. Ihm wurde bewusst, dass er als Amateureinbrecher einen Fehler gemacht hatte. Er hätte schnell durchs ganze Haus gehen sollen, um sich zu vergewissern, dass es leer war, anstatt hinten anzufangen und sich langsam nach vorn vorzuarbeiten.
Er wartete, aber es folgte kein weiteres Geräusch. Es war ein einmaliges Knallen gewesen, gefolgt von einem Geräusch, das sich anhörte, als würde etwas über den Holzfußboden rollen. Langsam ging er zur Tür des Schlafzimmers und spähte dann den Flur hinunter. Nur der Haufen Post auf dem Boden vor der Eingangstür.
Er stellte sich auf die Seite des Flurs, von der er annahm, dass dort das Holz nicht so schnell knarzen würde, und bewegte sich langsam in Richtung Eingangstür. Vom Flur ging links ein Wohnzimmer ab, rechts ein Esszimmer. Beide Räume waren leer. Er sah nichts, was das Geräusch erklärte, das er gehört hatte.
Das Wohnzimmer war ordentlich aufgeräumt. Es war mit Möbeln im Craftsman-Stil eingerichtet, die zum Charakter des Hauses passten. Was nicht dazu passte, war das Doppelregal mit Unterhaltungselektronik unter dem an der Wand hängenden Plasmafernsehschirm. Lilly Quinlan hatte eine Heimkinoanlage, die sie gut und gern fünfundzwanzig Riesen gekostet haben dürfte – der Traum jeder Couchpotato. Sie stand in krassem Widerspruch zu allem, was er bisher gesehen hatte.
Pierce ging zur Eingangstür und hockte sich vor dem Haufen Post nieder. Er begann sie durchzusehen. Größtenteils waren es an alle Haushalte adressierte Werbesendungen. Zwei Briefe waren von All American Mail – die Zahlungsaufforderungen. Es gab Kreditkartenrechnungen und Kontoauszüge. Ein großer Umschlag war von der University of Southern California. Pierce hielt vor allem nach Briefen – Rechnungen – von der Telefongesellschaft Ausschau, entdeckte aber keine. Das fand er eigenartig, erklärte es sich aber rasch damit, dass Lillys Telefonrechnungen möglicherweise an das Postfach bei All American Mail geschickt worden waren.
Ohne lange zu überlegen, steckte er einen der Kontoauszüge und eine Visa-Rechnung in die Gesäßtasche seiner Jeans. Ihm war bewusst, dass er dem Straftatbestand des Einbruchs noch das Bundesverbrechen des Postdiebstahls hinzufügte, aber er beschloss, darüber nicht weiter nachzudenken, und richtete sich auf.
An der Rückwand des Esszimmers stand ein Schreibtisch mit Rollaufsatz. Pierce zog sich vom Tisch einen Stuhl an den Schreibtisch, öffnete ihn und setzte sich. Er sah rasch die Schubladen durch und entschied, dass sie hier ihren Finanzkram erledigt haben musste. In der mittleren Schublade waren Scheckhefte, Briefmarken und Stifte. Die Seitenschubladen enthielten Kuverts von Kreditkarteninstituten und Versorgungsbetrieben sowie weitere Rechnungen. Er fand einen Packen Umschläge von Entrepreneurial Concepts Unlimited, die allerdings an das Postfach adressiert waren. Lilly hatte auf jedem Umschlag das Datum vermerkt, an dem die Rechnung bezahlt worden war. Eigenartigerweise waren jedoch auch hier keine alten Telefonrechnungen. Selbst wenn Lilly sie nicht an diese Adresse zugestellt bekommen haben sollte, deutete dennoch alles darauf hin, dass sie ihre Rechnungen von diesem Schreibtisch aus bezahlt hatte. Aber es gab keinerlei Quittungen oder Umschläge, auf denen das Zahlungsdatum vermerkt war.
Pierce hatte nicht die Zeit, um länger darüber nachzudenken oder alle Rechnungen durchzusehen. Außerdem war er nicht sicher, ob er in ihnen irgendwelche Hinweise darauf finden würde, was aus Lilly Quinlan geworden war. Er wandte sich wieder der mittleren Schublade zu und sah rasch die Register der Scheckhefte durch. Seit Ende Juli hatte es auf keinem Konto mehr Bewegungen gegeben. Als er in einem der Hefte rasch zurückblätterte, entdeckte er, dass die Belege für Zahlungen an die Telefongesellschaft Ende Juni
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