Jack McEvoy 05 - Unbekannt verzogen
ihnen hineinsah. Es gab Paare, die stritten, fickten und weinten. In einem Zimmer sah er seine Eltern. Seine Mutter und seinen Vater, nicht sein Stiefvater, aber sie waren in einem Alter, in dem sie bereits geschieden gewesen waren. Sie waren gerade dabei, sich anzuziehen, um zu einer Cocktailparty zu gehen.
Pierce ging weiter den Gang hinunter, und in einem anderen Zimmer sah er Renner. Der Detective war allein und ging neben dem Bett auf und ab. Laken und Decken waren abgezogen, und auf der Matratze war ein großer Blutfleck.
Pierce ging weiter, und im nächsten Zimmer war Lilly Quinlan auf dem Bett, reglos wie eine Schaufensterpuppe. Das Zimmer war dunkel. Sie war nackt, und ihr Blick war auf den Fernseher gerichtet. Zwar konnte Pierce von da, wo er stand, nicht auf den Bildschirm sehen, aber Lilly sah in dem bläulichen Schein, der auf ihr Gesicht fiel, tot aus. Als er einen Schritt in das Zimmer hineinmachte, um nach ihr zu sehen, schaute sie zu ihm hoch. Sie lächelte, und er lächelte, und als er sich umdrehte, um die Tür zu schließen, stellte er fest, dass das Zimmer keine Tür hatte. Als er sich wieder nach ihr umsah, um eine Erklärung zu bekommen, war das Bett leer, und nur der Fernseher lief.
17
Am Sonntag wurde Pierce um genau zwölf Uhr mittags vom Telefon geweckt. Ein Mann sagte: »Ist es noch zu früh, um mit Lilly zu sprechen?«
Pierce sagte: »Nein, eigentlich ist es zu spät.«
Er legte auf und sah auf die Uhr. Er dachte über seinen Traum nach und machte sich daran, ihn zu deuten. Doch dann drängte sich die erste Erinnerung an den Abend vor dem Traum in sein Bewusstsein, und er stöhnte. Sein Anruf bei Nicole mitten in der Nacht. Er stieg aus dem Schlafsack und dem Bett, um eine lange, heiße Dusche zu nehmen. Während dessen überlegte er sich, ob er sie noch einmal anrufen und sich entschuldigen sollte. Aber selbst das stechend heiße Wasser konnte die Scham nicht wegspülen, die er empfand. Er fand, es wäre das Beste, nicht anzurufen und nicht zu versuchen, alles zu erklären. Er würde versuchen zu vergessen, was er getan hatte.
Bis er fertig angezogen war, verlangte sein Magen lautstark nach Essen, aber in der Küche war nichts, er hatte kein Geld, und vom Geldautomaten konnte er bis Montag nichts mehr abheben. Er konnte in ein Restaurant oder einen Lebensmittelladen gehen und mit Kreditkarte zahlen, aber das würde zu lange dauern. Er war aus der Peinlichkeit des Nicole-Anrufs und der Taufe der Dusche mit dem starken Bedürfnis gekommen, die Geschichte mit Lilly Quinlan hinter sich zu bringen und der Polizei zu überlassen. Er musste wieder an seine Arbeit zurückkehren. Und jede Minute, die er später in die Firma kam, würde seine Entschlossenheit unterminieren.
Um ein Uhr betrat er das Firmengebäude. Er nickte dem Wachmann hinter dem Schalter am Eingang zu, grüßte ihn aber nicht namentlich. Es war einer von Clyde Vernons neuen Leuten, der Pierce gegenüber immer Distanz gewahrt hatte, und er war nicht unglücklich darüber, sich ebenso zu verhalten.
Auf seinem Schreibtisch hatte Pierce einen Kaffeebecher voll Kleingeld stehen. Bevor er sich an die Arbeit machte, legte er seinen Rucksack auf den Schreibtisch, schnappte sich den Becher und ging in den Aufenthaltsraum im ersten Stock hinunter, wo es Automaten für Snacks und Getränke gab. Nach dem Kauf von zwei Colas, zwei Tüten Chips und einer Packung Oreos war der Kaffeebecher fast leer. Dann sah er in den Kühlschrank, ob vielleicht jemand etwas Essbares darin gelassen hatte, aber es gab nichts zu stehlen. Das Reinigungspersonal räumte den Kühlschrank grundsätzlich jeden Freitagabend leer.
Als er in sein Büro zurückkam, war eine Tüte Chips leer. Nachdem er sich an den Schreibtisch gesetzt hatte, öffnete er die andere und machte eine Dose Cola auf. Er nahm die neuen Patentanmeldungen aus dem Safe unter dem Schreibtisch. Jacob Kaz war zwar ein hervorragender Patentanwalt, aber er musste die Einführungen und Zusammenfassungen der juristischen Anträge immer von den Wissenschaftlern gegenlesen lassen. Abgesegnet wurden die Patentanmeldungen immer von Pierce.
Bisher war es bei den Patenten, die Pierce und Amedeo Technologies in den vergangenen sechs Jahren eingereicht und erhalten hatten, immer darum gegangen, sich die Rechte an den Plänen komplexer biologischer Architekturen zu sichern. Der Schlüssel für die Zukunft der Nanotechnologie war die Entwicklung der Nanostrukturen,
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