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Jack McEvoy 05 - Unbekannt verzogen

Jack McEvoy 05 - Unbekannt verzogen

Titel: Jack McEvoy 05 - Unbekannt verzogen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Connelly
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auch dabei gewesen. Er erzählte ihnen, Isabelle hätte in ihrem Bekanntenkreis und bei den Männern, von denen sie sich ihre Dienste bezahlen ließ, einen anderen Namen benutzt. Er erinnerte sich, dass der Detective erzählte, sie hätte sich Angel genannt.
    Pierce wusste, dass Renner ihn durchschaut hatte. Was vor so langer Zeit geschehen war, war immer dicht unter der Oberfläche. Es war übergekocht, als sich ihm das Rätsel Lilly Quinlan gestellt hatte. In seinem Wunsch, Lilly zu finden, sie vielleicht zu retten, fand und rettete er seine eigene verlorene Schwester.
    Für Pierce war das Leben ebenso erstaunlich wie schrecklich. Was die Leute sich gegenseitig antaten, aber vor allem sich selbst. Vielleicht war das der Grund, warum er sich jeden Tag so viele Stunden im Labor einschloss. Er kapselte sich von der Welt ab, um nichts von schlimmen Dingen zu erfahren und nicht über sie nachdenken zu müssen. Im Labor war alles einfach und klar. Messbar. Eine wissenschaftliche Theorie wurde überprüft und entweder bestätigt oder widerlegt. Keine Grauzonen. Keine Schatten.
    Plötzlich überkam ihn ein übermächtiges Bedürfnis, mit Nicole zu sprechen, ihr zu erzählen, dass er in den letzten zwei Tagen etwas gelernt hatte, was er vorher nicht gewusst hatte. Etwas, das schwer in Worte zu fassen war, aber immer noch greifbar in seiner Brust war. Er wollte ihr sagen, dass er nicht mehr länger dem Dime hinterherjagen würde, sondern dass der Dime, wenn es nach ihm ginge, ihm hinterher jagen konnte.
    Er machte das Telefon an und wählte ihre Nummer. Seine alte Nummer. Amalfi Drive. Nach dem dritten Läuten nahm sie ab. Ihre Stimme klang wach, aber er konnte hören, dass sie geschlafen hatte.
    »Nicole, ich bin’s.«
    »Henry … was?«
    »Ich weiß, es ist spät, aber ich –«
    »Nein … das hatten wir alles schon. Du hast mir versprochen, das bleiben zu lassen.«
    »Ich weiß. Aber ich will mit dir reden.«
    »Hast du was getrunken?«
    »Nein. Ich wollte dir nur was sagen.«
    »Es ist mitten in der Nacht. Das geht nicht.«
    »Nur dieses eine Mal. Ich muss dir etwas erzählen. Lass mich vorbeikommen und –«
    »Nein, Henry, nein. Ich habe geschlafen. Wenn du reden willst, ruf mich morgen an. Auf Wiederhören.«
    Sie legte auf. Er spürte, wie sein Gesicht heiß wurde vor Scham. Gerade hatte er etwas getan, von dem er vor dieser Nacht sicher gewesen war, dass er es nie tun würde, von dem er sich nicht einmal hatte vorstellen können, dass er es tun würde.
    Mit einem lauten Stöhnen stand er auf und stellte sich ans Fenster. Hinter dem Pier im Norden konnte er die Halskette aus Lichtern sehen, die den Verlauf des Pacific Coast Highway anzeigten. Die darüber aufragenden Berge waren dunkle Schemen, kaum zu erkennen unter dem nächtlichen Himmel. Das Meer konnte er besser hören als sehen. Der Horizont war irgendwo da draußen in der Dunkelheit verloren.
    Er fühlte sich niedergeschlagen und müde. Von Nicole wanderten seine Gedanken zurück zu Lucy und dem, was anscheinend, wie er inzwischen wusste, Lillys Schicksal gewesen war. Als er in die Nacht hinausblickte, schwor er sich, nie zu vergessen, was er zu Lucy gesagt hatte. Wenn sie beschloss auszusteigen und bereit war, diesen Schritt zu tun, würde er da sein, und sei es auch nur um seiner selbst willen. Wer weiß, dachte er, am Ende erwies es sich vielleicht als das Beste, was er in seinem ganzen Leben getan hatte.
    Gerade als er es ansah, gingen die Lichter des Riesenrads aus. Er fasste das als einen Wink auf und ging in die Wohnung zurück. Auf der Couch griff er nach dem Telefon und wählte die Nummer seiner Mailbox. Er hörte sich die Nachricht von Lucy noch einmal an, dann ging er schlafen. Er hatte noch keine Laken oder Decken oder Kissen. Er legte den Schlafsack auf die neue Matratze und kroch hinein. Dann merkte er, dass er den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte. Er wurde sich bewusst, dass ihm das zum ersten Mal an einem Tag passierte, den er außerhalb des Labors verbracht hatte. Er schlief ein, als er in Gedanken eine Liste der Dinge zusammenstellte, die er tun wollte, wenn er am Morgen aufwachte.
    Bald träumte er von einem dunklen Gang mit offenen Türen auf beiden Seiten. Er schaute durch jede Tür, als er den Gang hinunterging. Jedes Zimmer, in das er sah, war wie ein Hotelzimmer mit einem Bett und einer Kommode und einem Fernseher. Und jedes Zimmer war bewohnt. Hauptsächlich von Leuten, die er nicht kannte und die nicht merkten, dass er zu

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