Jack McEvoy 05 - Unbekannt verzogen
Ray’s war ein Treff der Hightech-Generation – normalerweise hatte jeder in dem Laden ein Notebook oder einen Palm neben seinem Latte macchiato auf dem Tisch liegen. Es war vierundzwanzig Stunden geöffnet, und an jedem Tisch gab es Strom- und Telefonanschlüsse sowie DSL-Stecker. Verbindung nur zu lokalen Internetprovidern. Es war nicht weit vom Santa Monica College, den Filmstudios und den aufstrebenden Softwarevierteln der Westside entfernt, und es hatte keine Unternehmensanbindungen. Das alles trug zu seiner Beliebtheit bei der Online-Generation bei.
Pierce war zwar früher schon bei zahlreichen Gelegenheiten dort gewesen, war aber überrascht, dass es Glass für ein Treffen vorgeschlagen hatte. Am Telefon hörte sich Glass wie ein älterer Mann an, mit einer müden, brüchigen Stimme. Wenn das der Fall war, würde er in einem Lokal wie dem Cathode Ray’s ziemlich auffallen. Angesichts der Paranoia, die am Telefon von ihm ausgegangen war, schien es eigenartig, dass er ausgerechnet das Internetcafé als Treffpunkt vorgeschlagen hatte.
Um drei Uhr betrat Pierce das Cathode Ray’s und sah sich rasch nach einem älteren Mann um. Niemand fiel ihm auf. Niemand sah ihn an. Er stellte sich für einen Kaffee an.
Bevor er sein Büro verlassen hatte, hatte er das restliche Geld aus seiner Schreibtischtasse eingesteckt. Er zählte es, während er wartete, und gelangte zu dem Schluss, dass er gerade genug für einen einfachen Kaffee mittlerer Größe mit einem kleinen Rest für das Trinkgeldglas hatte.
Nachdem er seinen Kaffee mit ordentlichen Mengen Kaffeesahne und Zucker verfeinert hatte, ging er auf die Terrasse hinaus und setzte sich an einen freien Ecktisch. Er ließ sich Zeit mit seinem Kaffee, aber es vergingen trotzdem zwanzig Minuten, bis ein kleiner Mann in schwarzen Jeans und schwarzem T-Shirt auf ihn zukam. Er war glatt rasiert und hatte harte, tief liegende dunkle Augen. Er war wesentlich jünger, als Pierce ihn geschätzt hatte, höchstens Ende dreißig. Er hatte sich keinen Kaffee geholt, sondern war direkt an den Tisch gekommen.
»Mr. Pierce?«
Pierce reichte ihm die Hand.
»Mr. Glass?«
Glass zog den anderen Stuhl heraus und setzte sich. Er beugte sich über den Tisch.
»Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich gern Ihren Ausweis sehen«, sagte er.
Pierce stellte seine Tasse ab und begann, in seiner Tasche nach seiner Geldbörse zu kramen.
»Wahrscheinlich gar keine so schlechte Idee«, sagte er. »Was dagegen, wenn ich mir auch Ihren ansehe?«
Nachdem sich beide Männer vergewissert hatten, dass sie mit dem Richtigen am Tisch saßen, lehnte sich Pierce zurück und betrachtete Glass. Er kam ihm wie ein großer Mann vor, der im Körper eines kleinen Mannes steckte. Er strahlte Intensität aus. Es war, als wäre seine Haut zu straff über seinen Körper gespannt.
»Möchten Sie sich vielleicht einen Kaffee holen, bevor wir anfangen?«
»Nein, ich trinke nichts mit Koffein.«
Das schien zu passen.
»Dann sollten wir am besten gleich zur Sache kommen. Wieso diese komische Spionnummer?«
»Wie bitte?«
»Sie wissen schon, ›Kommen Sie bitte allein‹ und ›Was machen Sie beruflich‹, dieser ganze Kram. Das kommt mir alles ein wenig eigenartig vor.«
Bevor er antwortete, nickte Glass, als gäbe er ihm Recht.
»Was wissen Sie über Lilly Quinlan?«
»Ich weiß, wovon sie gelebt hat, falls Sie das meinen.«
»Und was war das?«
»Sie war Callgirl. Sie hat im Internet annonciert. Ich bin ziemlich sicher, dass sie für einen gewissen Billy Wentz gearbeitet hat. Er ist so eine Art digitaler Zuhälter. Er verwaltet die Website, auf der sie eine Seite hatte. Ich glaube, er hat sie auch anderweitig für sich arbeiten lassen – Porno-Sites und solche Sachen. Ich glaube, sie hatte auch mit der S&M-Szene zu tun.«
Der Name Wentz schien neue Anspannung in Glass’ Gesicht zu bringen. Er verschränkte die Arme auf dem Tisch und beugte sich vor.
»Haben Sie schon mit Mr. Wentz persönlich gesprochen?«
Pierce schüttelte den Kopf.
»Nein, aber ich habe es versucht. Ich war gestern bei Entrepreneurial Concepts – das ist sein Dachunternehmen. Ich habe nach ihm gefragt, aber er war nicht da. Warum werde ich eigentlich das Gefühl nicht los, dass ich Ihnen hier Dinge erzähle, die Sie bereits wissen? Eigentlich würde ich Ihnen gern Fragen stellen, nicht beantworten.«
»Es gibt nicht viel, was ich Ihnen sagen kann. Ich bin auf die Suche nach Vermissten spezialisiert. Ich wurde Vivian Quinlan
Weitere Kostenlose Bücher