Jack McEvoy 05 - Unbekannt verzogen
abfahren?«
»Verschwinden Sie hier. Sie sind ja verrückt.«
»Ich glaube nicht, dass ich der Verrückte bin. Warum war es Ihre Schuld?«
»Was?«
»Sie haben gesagt, das mit ihr war alles Ihre Schuld. Warum? Was hat sie gemacht? Sie in Ihrer Männlichkeit gekränkt? Haben Sie einen kleinen Pimmel, Pierce? Ist es das?«
Pierce schüttelte energisch den Kopf. Es löste einen Schwindelanfall aus. Er schloss die Augen.
»Das habe ich nicht gesagt. Es ist nicht meine Schuld.«
»Sie haben es gesagt. Ich habe es gehört.«
»Nein. Sie legen mir etwas in den Mund. Es ist nicht meine Schuld. Ich hatte nichts damit zu tun.«
Als er die Augen öffnete, sah er Renner in seine Jackentasche greifen und ein Tonbandgerät herausholen. Das rote Licht war an. Es war ein anderes Aufnahmegerät als das, das der Detective am Anfang der Vernehmung auf das schwenkbare Tischchen gelegt und dann ausgemacht hatte. Renner hatte das ganze Gespräch aufgenommen.
Renner drückte ein paar Sekunden auf die Rückspultaste und spulte dann ein paar Mal vor und zurück, bis er die Stelle fand. Dann spielte er ab, was Pierce kurz zuvor gesagt hatte.
»Das ist alles ein Missverständnis. Alles, was ich getan habe … ich meine … ich habe ihre Nummer gekriegt. Ich wollte nur sehen … ich wollte ihr helfen … wissen Sie, es war meine Schuld … und ich dachte, wenn ich …«
Renner schaltete den Recorder aus und sah Pierce mit einem selbstzufriedenen Grinsen an. Der Detective hatte ihn in die Enge getrieben. Er war ausgetrickst worden. Sein juristischer Instinkt, so begrenzt er auch sein mochte, riet ihm, kein Wort mehr zu sagen. Aber Pierce konnte nicht aufhören.
»Nein«, sagte er. »Damit habe ich nicht sie gemeint. Lilly Quinlan. Ich habe meine Schwester gemeint. Ich war –«
»Wir haben aber über Lilly Quinlan gesprochen, und Sie haben gesagt, es war Ihre Schuld. Das ist ein Eingeständnis, Freundchen.«
»Nein, ich habe Ihnen doch gesagt, ich –«
»Ich weiß, was Sie mir gesagt haben. Es war eine interessante Geschichte.«
»Es ist keine Geschichte.«
»Wissen Sie, was? Geschichte hin oder Geschichte her, ich glaube, sobald ich die Leiche finde, kann ich die richtige Geschichte erzählen. Dann habe ich Sie im Sack, und der Fall ist für mich erledigt.«
Renner beugte sich über das Bett, bis sein Gesicht nur wenige Zentimeter von Pierces entfernt war.
»Wo ist sie, Pierce? Sie wissen, es hat keinen Sinn mehr, zu leugnen. Wir werden sie finden. Bringen wir es also jetzt gleich hinter uns. Erzählen Sie mir, was Sie mit ihr gemacht haben.«
Sie starrten sich gegenseitig an. Pierce hörte das Klicken des Tonbandgeräts, als es wieder eingeschaltet wurde.
»Raus.«
»Reden Sie lieber mit mir. Sie haben nicht mehr viel Zeit. Sobald ich das hier melde und sobald es die Anwälte in die Hände kriegen, kann ich Ihnen nicht mehr helfen. Reden Sie mit mir, Henry. Machen Sie schon. Reden Sie es sich von der Seele.«
»Ich sagte, raus. Ich will einen Anwalt haben.«
Renner richtete sich auf und grinste wissend. Mit einer übertriebenen Geste hielt er das Tonbandgerät hoch und schaltete es aus.
»Klar, dass Sie einen Anwalt wollen«, sagte er. »Und Sie werden auch einen brauchen. Ich gehe jetzt zum Bezirksstaatsanwalt, Pierce. Ich weiß, wegen Behinderung und Einbruch habe ich Sie schon. Da führt kein Weg dran vorbei. Aber das ist alles nur Kleinkram. Ich kriege Sie auch wegen dieser großen Sache dran.«
Er hielt das Tonbandgerät, als wären die Wörter, die er damit aufgezeichnet hatte, der heilige Gral.
»Sobald die Leiche auftaucht, haben Sie ausgespielt.«
Pierce hörte gar nicht mehr richtig zu. Er wandte sich von Renner ab, starrte ins Leere und dachte darüber nach, wie es nun weitergehen würde. Schlagartig wurde ihm klar, dass er alles verlieren würde. Die Firma, alles. Im Bruchteil einer Sekunde fielen in seiner Vorstellung alle Dominosteine um. Der letzte von ihnen war Goddard, der einen Rückzieher machte und sein Geld woanders investierte, bei Bronson Tech oder Midas Molecular oder einem der anderen Konkurrenzunternehmen. Goddard würde sich zurückziehen, und niemand wäre bereit, seinen Platz einzunehmen. Nicht unter dem grellen Licht eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens und eines eventuellen Prozesses. Es wäre alles aus. Er wäre unausweichlich aus dem Rennen.
Er sah wieder Renner an.
»Ich habe gesagt, ich spreche nicht mehr mit Ihnen. Ich möchte, dass Sie gehen. Ich will einen Anwalt
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