Jack Morrow und das Grab der Zeit: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
ein Weber?«, wollte Jack wissen.
Aber Torbalan nahm seine Frage nicht einmal zur Kennt nis. »Was jetzt kommt, gefällt Ihnen vielleicht weniger«, sagte er entschuldigend. Er ließ die Hand herunterfahren und stach den Bleistift in die Karte.
Fast im selben Moment trennte sich die Leitung mit einem Ruck von der Plattform und schoss davon. Sie kippten und stürzten ab, wurden mit jeder Sekunde schneller. Die Luft um sie herum knisterte und schlug Funken, erhellte die Plattform mit kurzen Ausbrüchen von blauem Licht. Unter ihnen riss die Luft auf, verwandelte sich in einen Wirbel aus Gas und Blitzen, und Jack keuchte auf, als der wilde Mahlstrom die kleine Plattform verschlang. Blitze zuckten die Holzbretter entlang, statische Entladungen versetzten Jack kleine Schläge, und ihm stach schmerzhaft ein Geruch in die Nase, der noch am ehesten an faule Eier erinnerte. Seine Mundhöhle und seine Augen trockneten aus, und er konnte nichts mehr sehen außer weißem Licht. Jeder Zoll seines Körpers schrie auf vor Schmerzen, und doch blieb ihm nichts anderes übrig, als sich an der Plattform festzuklammern, die Augen zuzukneifen und es über sich ergehen zu lassen.
Und dann hörte es auf zu blitzen. Einen Moment lang lag er still da und schnappte nach Luft. Dann öffnete er versuchsweise die Augen. Sie fühlten sich kratzig und trocken an, wie nach dem Schwimmunterricht, bloß viel schlimmer. Verschwommene Umrisse tauchten vor ihm auf: Eloise und Davey.
Zu Jacks Verblüffung stand Torbalan aufrecht und schälte eine Banane, die er aus seinem Sack gezogen hatte. »Davon kriege ich immer Hunger.« Er schluckte große Stücke der weichen Frucht hinunter und aß dann auch noch die Schale. Er wischte sich die Hände ab und lächelte mit Bananenzähnen. »Willkommen im Tiefland.«
Um sie herum wirbelte ein grüner Nebel, der nach Verfall stank. Jacks Augen sahen wieder klar, und er musterte die Umgebung; sie trieben auf einem endlosen See aus dunk ler, brackiger Flüssigkeit dahin, die fortwährend blubberte und brodelte und stinkende Schwaden grünen Nebels ausspuckte.
Torbalan schnupperte, dann griff er nach seinem Sack und holte einen großen kugelförmigen Gegenstand heraus, der von einem verdrehten Seilstrang herunterhing. Er reckte die Hand hoch und ließ die Kugel frei schwingen. Sie öffnete sich und enthüllte eine große erweiterte Pupille – einen riesigen blutunterlaufenen Augapfel, der an seinem Strang zuckte und sich hektisch umsah.
»Er hat ein Wünschelauge«, sagte Davey staunend.
»Was ist das?«, fragte Jack angeekelt.
»Das braucht man für den richtigen Weg«, erklärte Torbalan. »Das Wünschelauge findet ihn.«
Eloise sah nicht zu dem schaukelnden Augapfel; sie hatte sich abgewandt und spähte ins nebelige Nichts. »Wir sind hier nicht allein.«
»Was ist los?«, fragte Jack.
Torbalan sah auf, in seinen tiefliegenden Augen blitzte kurz Angst auf. »Weber sind los.«
»Das ist wahrscheinlich nicht so gut, oder?«, fragte Jack.
»Weber sind abscheuliche Wesen, die dazu verflucht sind, den Tieflandsee zu befahren«, sagte Eloise. »Sie weben Mäntel aus deiner Seele.«
Davey lachte. »Die stricken Pullover aus uns?«
Trotz ihrer Lage musste Jack ebenfalls kichern. Aber als er Eloises besorgte Miene sah, verging ihm das Lachen prompt wieder.
Eine Glocke läutete, und der verschwommene Umriss eines Schiffs tauchte aus dem Nebel auf. Es glitt über den stinkenden See und wurde im Näherkommen immer größer. Es war riesig; die Umrisse verwachsener Gestalten schwankten an Deck umher und als erneut die Glocke läutete, konnte Jack die schrillen Schreie von tausend gequälten Seelen hören, die über den Nebel trieben. Ganz egal, wie lange er noch lebte, diesen Klang würde er nie wieder vergessen. Schlotternd drehte er sich zu Torbalan um und wollte ihn anflehen, sie bloß schnell von hier wegzubringen. Er öffnete den Mund, aber die Panik schnürte ihm die Kehle zu – ein so überwältigendes Grauen hatte er noch nie empfunden. Auch Eloise und Davey schienen wie gelähmt zu sein und sich nicht wehren zu können.
Jede Kampfkraft verflog, zurück blieb nur das Gefühl tödlicher Unausweichlichkeit.
Doch Torbalan reckte immer noch das Auge hoch, das sich umsah und nach dem richtigen Weg suchte. Das Schiff der Weber kam auf sie zu, sein hölzerner Bug durchpflügte den Nebel, und hallende Stimmen brüllten Befehle. Und die ganze Zeit über klagten die verlorenen Seelen ihr Leid, lauter und lauter,
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