Jack Morrow und das Grab der Zeit: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
Jack und Davey folgten ihr. Während sie einen langen Flur hinunter zu einer großen Halle gingen, fragte Jack sich, wem dieses Haus wohl gehörte, auf welche Fremden er nun wieder stoßen würde. Eine breite Treppe schwang sich elegant vom Marmorfußboden empor; auf ihrem polierten Eichenholzgeländer spiegelte sich blaues Mondlicht. Geschützfeuer von Flugabwehrkanonen erhellte die Halle und hob Gegenstände aus der Dunkelheit hervor: ein eindrucksvolles Gemälde an der Wand, eine Sammlung schöner Vasen auf einem zierlichen Mahagonitisch, eine exquisit gearbeitete Großvateruhr.
»Tja«, sagte Davey, »sieht so aus, als wäre niemand zu Hause, da können wir uns ebenso gut erst noch in der Speisekammer bedienen.«
»Hier ist jemand«, sagte Eloise leise.
»Eure tote Freundin hat durchaus recht«, hallte eine hei sere Stimme in der Dunkelheit. Eloise fuhr herum, das Schwert gezogen, und versuchte zu erkennen, woher die Stimme kam.
»Bitte stecken Sie Ihr Schwert weg; zu Feindseligkeiten besteht kein Anlass.« Die Stimme kam aus einem Empfangszimmer, das an die Eingangshalle anschloss. Die Tür stand offen, und Eloise trat vorsichtig ein, mit Jack und Davey im Schlepptau.
Schwer beladene Bücherregale, die sich mit allen mög lichen merkwürdigen Antiquitäten abwechselten, bedeckten drei Wände des kleinen Zimmers. In der Raummitte stand ein großer Lesesessel. Ein weißhaariger alter Mann in einer Hausjacke aus dunkelrotem Samt erwiderte den Blick der drei und strich sich über den sorgfältig gestutzten Bart.
»Ich nehme an, Sie sind mit einem Schwarzwicht hierhergekommen?«, fragte er und legte das Buch, das er gelesen hatte, auf einen Beistelltisch. »Ich muss wirklich einmal ein Schloss an meiner Speisekammer anbringen lassen.«
»Ihr seid ein Illuminator?«, fragte Eloise und hielt immer noch das Schwert vor sich. »Könnt Ihr hinter das Sichtbare blicken?«
Ihre Frage blieb unbeantwortet. »Wirklich, mir ist nicht nach Schwertkämpfen zumute, stecken Sie die Waffe weg.«
Eloise schob die Klinge langsam wieder in die Scheide.
»Vielen Dank«, sagte der alte Mann. »Wollen wir nun vielleicht einen neuen Anlauf machen? Ich bin Montgomery Falconer, und dies ist mein Heim. Alle sagen Monty zu mir. Sie dürfen auch Monty zu mir sagen, wenn Sie möchten.«
Jack trat vor. »Hallo, Monty. Die Dame mit dem Schwert ist Eloise, das ist Davey, und ich bin Jack.« Er hielt Monty seine Hand hin.
»Nein!«, rief Eloise und versuchte Jack zurückzuziehen, aber da schüttelte er dem alten Mann schon die Hand. Monty gab ihm nur ganz kurz die Hand, doch die Zeit schien sich bis in die Ewigkeit auszudehnen. Seine Hand war kühl und schmal; sie erinnerte Jack an die Hand seiner Oma. Aber er spürte auch noch etwas anderes – einen Ansturm von Bildern in seinem Kopf. Sie waren so flüchtig, dass er sich keinen Reim darauf machen konnte, was er gesehen hatte, als hätte irgendetwas längst vergessene Erinnerungen wachgerufen, nur fühlte er sich mit Orten und Ereignissen verbunden, die er nie erlebt hatte, mit einer Vergangenheit, die weiter zurücklag als seine Geburt. Es war wie die Reise durch einen Tränentunnel. Er zuckte verblüfft zurück, außer Atem und zitternd.
»Das tut mir leid, Jack«, sagte Monty mit brüchiger Stimme. »Ich hätte dich ohne eine vorhergehende Erklärung nicht berühren dürfen. Ich war davon ausgegangen, dass eure Freundin diese kleine Aufgabe bereits erledigt hat, aber egal.« Monty rieb sich die Hand.
»Haben Sie … haben Sie meine Gedanken gelesen?«, fragte Jack benommen.
»Er ist ein Illuminator«, sagte Eloise knapp. »Er nimmt durch Berührung wahr. Er sieht mit den Fingern.«
»Eine sehr romantische Erklärung, Eloise«, sagte Monty und fand seine Selbstbeherrschung wieder. »Aber durchaus zutreffend. Indem ich dich berührt habe, war ich kurz mit allem verbunden, was du je berührt hast. Ich konnte die Abfolge von Ereignissen sehen, die dich hierhergeführt hat, sogar diejenigen Ereignisse, die du selbst nie miterlebt hast. Jedes Leben ist nur ein Faden in einem viel größeren Gewebe. Ich kann dieses Gewebe sehen.«
»Was bedeutet das?«, fragte Jack.
»Es bedeutet, dass ich weiß, was dich hierhergeführt hat. Du suchst nach der Rose von Annwn.« Montys Miene war nicht zu deuten, wie eine unveränderliche Totenmaske. »Du bist nicht der Erste, weißt du das? Im Laufe der Jahre haben sie viele gesucht, gefunden hat sie niemand. Aber alle denken, dass ich helfen kann.«
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