Jack Morrow und das Grab der Zeit: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
haben. Als Gegenleistung wollte Saxton ihm Essen und Unterkunft in seinem Häuschen gegenüber der Kirche geben.
Jack erzählte ihm, er wäre ein Waise, aber Sexton stellte kaum Fragen, sondern vertraute ihm anscheinend einfach, und Jack reichte es durchaus, einen stillen Gefährten zu ha ben, während er auf dem Friedhof zugange war. Sexton schien mindestens siebzig Jahre alt zu sein; sein schmaler Körper wurde oft von Husten geschüttelt, aber sein ledriges Gesicht zeugte von innerer Stärke.
Am ersten Tag schuftete Jack mehr als in seinem ganzen Leben zuvor. Sie hoben gemeinsam ein frisches Grab in der gefrorenen Januarerde aus, und als die Sonne unterging, waren seine Hände von Blasen bedeckt, und ihm tat der Rücken weh.
Sie gingen in Sextons Haus, und Jacks Angst legte sich völlig; er spürte nicht den Hauch einer Bedrohung durch den warmherzigen alten Mann. Sie teilten ein schlichtes Mahl aus Brot, Schinken und Käse, und nach einer Stunde vor Sextons Kamin schlief Jack ein. Er verbrachte die Nacht in dem Sessel und wachte erst am Morgen wieder auf, als Sexton ihm Eier und Tee brachte.
Und so ging es weiter, seine Tage waren angefüllt mit schwerer, knochenharter Arbeit, die ihm die Hände zerschrammte und an seinen Muskeln zerrte, seine Nächte verbrachte er vor Sextons Kamin mit Essen und Schlafen. Die wenigen Momente, die er für sich allein hatte, nutzte er dazu, das Buch zu studieren, das Davey und er Jane McBride gestohlen hatten. Die gelben Seiten waren mit einer Sprache bedruckt, die er nicht verstand, mit Zeilen über Zeilen von handgeschrie benen runenartigen Symbolen. Bestimmt handelte es sich um einen Code, aber Jack schaffte es nicht, ihn zu knacken. Hier und da gab es Anmerkungen auf Englisch. Manchmal Zahlenfolgen oder Gleichungen, manchmal Unterstreichungen mit Kommentaren wie »wichtig« oder »hervorragender Beweis«. Die letzte Seite war anders, auf ihr war ein Gitter aus Text und Zahlen dargestellt, die er lesen konnte, die aber zusammengenommen nur Unsinn ergaben. Es erinnerte ihn an die Wortsuchrätsel, die seine Oma immer gern löste.
Dann, am achten Tag, als sie schweigend zusammen ins Feuer schauten, fragte Sexton: »Woher kommst du, Jack?«
»Aus London«, sagte er träge.
»Und aus welcher Zeit?«
Jack sah hoch in Saxtons dunkle Augen und konnte sich plötzlich nicht rühren vor Angst.
Der Alte strich sich mit der knorrigen Hand den struppigen Bart. »Bist du ein Springer?«
Zunächst zögerte Jack und krallte die Hände um die Sessellehnen – war er schon in eine Falle hineinspaziert? Dann sagte er aus vollem Herzen: »Ja.«Er rutschte unbehaglich auf dem Sessel herum und wartete auf die Reaktion des Alten.
Sexton zog die Augenbrauen hoch und nickte. Er wandte sein Gesicht wieder dem Feuer zu und lehnte sich zurück, als wäre dieses seltsame Gespräch eine ganz alltägliche Plau derei.
Jack beugte sich vor und wusste vor lauter brennenden Fragen gar nicht, welche er zuerst stellen sollte. »Woher wussten Sie das?«
»Wir sind uns schon einmal begegnet«, sagte Sexton, ohne den Blick vom Feuer abzuwenden. »Oder wir werden uns begegnen. Du kamst mir gleich bekannt vor. Ich konnte dich bloß bis heute Abend nicht einordnen.«
»Wir sind uns schon mal begegnet?«, fragte Jack verblüfft. »Wann denn?«
»Ist lange her. Ich weiß es kaum noch.«
Jack wusste, dass die Tränentunnel den normalen Pfeil der Zeit leicht zu Knoten verbiegen konnten. Hier saß ein Mann, dem er wohl irgendwann noch einmal begegnen würde, nur dass es aus Sextons Sicht seine ferne Vergangenheit war.
»Was sind Sie?«
»Ein Springer, wie du. Oder ich war mal einer, ist lange her.«
»Haben Sie die Fähigkeit noch?«
Da sah Sexton ihn doch wieder an, die Stirn in unzählige Falten gelegt. »Heute? Nein.«
»Wann haben Sie sie verloren?«
»Als Jugendlicher. Das mit den Mädchen fängt an, dafür hört anderes auf.« Sexton seufzte mit Bedauern. Seine rissigen Lippen spannten sich über seinen Zähnen. »Keine Fragen mehr. Bin müde.«
Trotz Jacks fortwährender Fragen blieb Sexton einsilbig, seine wenigen Antworten gaben keine weiteren Hinweise auf seine Vergangenheit. Er redete bereitwillig von seiner geliebten Frau, darüber, wie sie sich kennengelernt und geheiratet hatten, wie er ein herrlich normales Leben in der Zweiten Welt geführt hatte, wie sehr ihm seine Frau seit ihrem frühen Tod vor zwanzig Jahren fehlte, aber weitere Gespräche über seine Jugend in der Ersten Welt lehnte
Weitere Kostenlose Bücher