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Jack Morrow und das Grab der Zeit: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Jack Morrow und das Grab der Zeit: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Titel: Jack Morrow und das Grab der Zeit: Roman (Heyne fliegt) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Niel Bushnell
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seit seiner Rückkehr ins Jahr 1813 ab, in körnigen und emotionalen Bildern. Es war alles viel härter gewesen, als er sich vorgestellt hatte.
    In den Tränentunnel kam er ganz leicht hinein, sobald er erst einmal die Eintrittsstelle gefunden hatte. Je öfter er durch die Zeit reiste, desto mehr gewöhnte er sich an das Gefühl und wusste, wonach er zu suchen hatte. Selbst ältere, verblasstere Tränentunnel wie diese öffneten sich ihm ohne viel Mühe.
    Einmal drinnen war es dann völlig anders. Die Sinnes eindrücke waren beunruhigend, verstörend sogar. Ein so jun ger Mensch, ein Mädchen von nur fünf Jahren, hatte etwas schmerzlich Unfertiges an sich – das hervorströmende Leid war anders, war durchsetzt von Zorn und Bedauern. Jack spürte jeden Moment ihres Sterbens. Die ersten Ausbrüche der Krankheit, die Hoffnung auf Heilung, das Begreifen der Unausweichlichkeit und dann der rasche Absturz in den Tod.
    Die Schmerzen waren gar nicht so schlimm, und doch war er bei seiner Ankunft im Jahr 1813 ganz kaputt vom Leid. Er öffnete die Augen und hörte sich schreien, wie ein verwaistes junges Tier. Unglücklicherweise fing gerade der Sonntags gottesdienst an. Die entsetzten Kirchgänger, die ihre besten Sachen trugen, wurden Zeugen seines Schreis und hatten Angst, er könnte besessen sein. Schließlich kam eine Frau näher in einer Mischung aus Sorge und Furcht. Er sprang auf und lief durch die gewundenen Straßen davon, wobei ihn die Eindrücke, unter denen er stand, immer noch taumeln ließen.
    Auf seiner ersten Reise ins Jahr 1813 mit Davey hatte er nur einen winzigen Bruchteil der Stadt kennengelernt, die in Dunkelheit und Schnee gehüllt gewesen war. Aber als er ziellos durch die schmalen Gassen streifte, die nur von einer schwachen Wintersonne erhellt wurden, sah er London in all seiner Größe. Dichter Rauch lag drückend über den Dächern, nahm der Stadt das Licht und die Farben und ließ nur Braun- und Grautöne übrig. Der Gestank war unglaublich, eine widerliche Mischung aus Kloake, verfaulendem Gemüse und geschlachteten Tieren.
    Überall waren Pferde zu sehen, deren Dung sich am Straßenrand mit Stroh und Asche zu einem klumpigen Teppich vermengte und an manchen Stellen von der ersten dünnen Schneeschicht bedeckt war.
    Jack hielt sich in den Hintergassen auf und versteckte sich zwischen den Kisten und Fässern, dem Krempel und dem Müll, dem Treibgut und Strandgut, bis sein Grauen nachließ wie ein Meer, das sich bei Ebbe träge zurückzog. Er wusste nichts von dieser Zeit und musste nun erkennen, dass ihn die ungeschminkte Realität und die Derbheit abstießen.
    So wanderte er einen Großteil des Sonntags herum, ohne zu essen und zu schlafen, war aber noch nicht verzweifelt genug, um etwas zu essen zu stehlen. Bald war er erschöpft und hungrig. Wenn er Davey irgendeine Hilfe sein wollte, dann musste er Nahrung und Unterkunft finden, so viel stand fest.
    Die erste Nacht verbrachte er in einem verwahrlosten Schweinestall hinten im Garten eines großen Hauses. Er teilte sich den Boden mit zwei wenig begeisterten Säuen, die schnauf ten und grunzten, bis sie seine Anwesenheit in ihrem trauten Heim misstrauisch hinnahmen. Trotz der Körperwärme der Tiere war es unerträglich kalt, der Wind pfiff auf allen Seiten durch die Löcher und Ritzen, und Jack fand kaum Schlaf. Beim ersten Tageslicht kehrte er auf die Straße zurück und schwor sich, keine weitere Nacht auf diese Weise zu verbringen. Die bittere Einsamkeit war kaum zu ertragen, und nur die vage Hoffnung, irgendwie seine Mutter zu retten, ließ ihn weitermachen.
    Er sah andere Jungen in seinem Alter, die den Mist von der Straße sammelten. Er spielte mit dem Gedanken, nach Arbeit zu fragen, aber als er sah, wie einer der Jungen von seinem Herrn geschlagen wurde, ließ er es bleiben.
    Ohne es beabsichtigt zu haben fand er sich draußen vor der Kirche wieder. Er sah zu, wie ein alter Mann mit Vollbart vorsichtig über den Friedhof ging, einen Spaten über der Schul ter. Der Mann blieb stehen und drehte sich um, bemerkte Jack.
    »Kannst du graben?«, rief er.
    »Ja, ich denke schon«, sagte Jack und versuchte sich zu erinnern, ob er das schon einmal gemacht hatte.
    »Dann komm.« Der Alte ging weiter, ohne noch mehr zu sagen.
    Jack erfuhr, dass er Sexton Clay hieß und hier der Totengräber und Friedhofsgärtner war. Seine alten Glieder waren es leid, in der gefrorenen Erde zu graben, und er war froh, die Hilfe eines jungen Burschen gefunden zu

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