Jack Morrow und das Grab der Zeit: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
Nackenhaare prickelten. Er konnte nicht erkennen, wer dieser Mann war, dessen Gesicht im Schatten eines abgestorbenen Baums verborgen war. Wegen Jacks Blick trat der Fremde noch weiter in die Schatten zurück. Jack fühlte sich nackt und ungeschützt. Er zog sich von der Brüstung zurück und schloss die Tür.
»Jetzt schläft er erst mal wieder.«
Jack fuhr herum. Seine Mutter war ins Zimmer zurückge kehrt. Sie sah ihn an, und Stolz stand in ihren Augen. Sie hatte ihm so sehr gefehlt.
»Dann bist du also ein Springer. Wie hast du deine Gabe entdeckt?«
»Durch Zufall«, sagte Jack. Wusste sie es? Wusste sie, dass er ihr Grab für seine allererste Reise durch die Tränentunnel benutzt hatte, wenn auch unwissentlich? Sein Unbehagen wuchs, und er sah woandershin.
»Erzähl mir, wo bist du überall gewesen?«
»Im Zweiten Weltkrieg, dann im Jahr 1 8 1 3 und jetzt hier.«
» 18 1 3?« Sie pfiff leise.
In seinem Inneren nahmen die lautstarken Forderungen nach Antworten weiter zu, bis er es nicht mehr aushielt. »Mum, was bin ich? Was bist du? Worum geht es hier überhaupt?«
Catherine setzte sich wieder auf das verschlissene Ledersofa und deutete ihm an, sich zu ihr zu setzen. »Meine Familie gehört schon seit Generationen zur Ersten Welt. Von der Seite meiner Mutter her entstammen wir einem der alten Adelshäuser – nicht dass man uns das ansehen würde.« Sie nickte zur Tür, zu Davey irgendwo auf der anderen Seite. »Ich wurde in jene Welt geboren. Ich wuchs auf und wusste alles über Springer und Zimmerleute und Grimnare. Aber es ist eine sterbende Welt; die Familien bekriegen einander, und da viele von uns ein friedlicheres Leben wollten, sind wir hier hergekommen, in die Zweite Welt. Ich habe nie vorgehabt, länger als ein paar Monate zu bleiben. Aber dann habe ich deinen Vater kennengelernt.« Sie lächelte mit einem abwe senden Blick in den Augen und spielte mit dem Anhänger, der um ihren Hals hing. »Und meine Pläne geändert.«
Jack fragte sich, ob sein Vater vielleicht auch gleich kam.
»Er ist auf der Arbeit«, sagte Catherine, »und er weiß nichts von der Ersten Welt. Ich habe sie geheim gehalten, um ihn zu schützen, um dich zu schützen.« Ein ernstes Lächeln umkräuselte ihre Lippen. »Jack, ich bin eine Macherin. Du weißt, was das ist, nicht wahr?«
Jack wusste noch, dass Castilan diesen Begriff benutzt hatte. »Du kannst Gedanken lesen?«
»Das ist das Erste, was du beherrschst. Aber noch nicht das Letzte. Ein Macher ist jemand, der mit seinem Geist Sachen machen kann.«
»Was für Sachen?«
Catherine sah zu der abgestorbenen Pflanze auf dem Bord hinauf, die sich prompt in die Luft erhob und zu Jack geschwebt kam. Sie näherte sich seinem Gesicht, verschwand dann – ein Prickeln wie von statischer Ladung zog seine Haut entlang –, und die Pflanze erschien im selben Moment wieder oben über dem Bord, landete wackelnd wieder auf ihrem Platz.
Catherine entspannte sich; sie hatte den Atem angehalten. »Es gibt jede Menge schicke wissenschaftliche Wörter für das, was ich kann: Telepathie, Psychokinese, Präkognition, Hellsehen, aber die drücken in keiner Weise aus, wie viel Spaß das machen kann.« Zwischen ihren Fingern sah Jack winzige Funken, wie ein Minigewitter. Er konnte nicht glauben, was er da sah. Die Funken sammelten sich und formten eine Kugel aus Elektrizität, die darum kämpfte freizukommen. »Überall ist Energie, sogar zwischen meinen Fingern. Ein Macher weiß sich dieser Energie zu bedienen.« Sie lächelte und genoss es sichtlich, ihre Geheimnisse mit ihm zu teilen.
»Es ist angeboren, also bist du eines Tages vielleicht auch dazu in der Lage.«
Jack grinste.
»Freu dich nicht zu sehr darauf; ich sage das als Warnung. Macher haben ihren Nutzen, aber diese Art von Macht kann einen verderben. Ich kann deine Gedanken lesen; ich könnte dir sogar einen Gedanken in den Kopf setzen, und du würdest denken, es wäre dein eigener. Ein geschickter Macher kann dafür sorgen, dass jemand zum Mörder wird oder eine Klippe hinunterspringt. Macher können sehr gefährlich sein. Diese Gabe kann jemanden für immer verändern.«
Catherine stand auf und rieb sich die Arme, als hätte eine plötzliche Abkühlung sie ihrer Wärme beraubt.
»Als ich deinen Vater kennengelernt habe, als wir uns verliebt und geheiratet haben, da habe ich geschworen, meine Fähigkeiten nie wieder einzusetzen. Es war eine Freude, nicht zu wissen, was er als Nächstes sagen würde, und den Impuls zu
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