Jack Morrow und das Grab der Zeit: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
ihrer grellen Banalität. Und im Zentrum stand seine Mutter, seine tote Mutter: Catherine Morrow.
Mit einem gutmütigen Lächeln drehte sie sich zu Davey und Eloise um, die bei der Wohnungstür warteten. »Kann ich bitte einen Moment mit Jack allein sein?«
Eloise nickte und zog sich in den Hausflur zurück. Davey stand einen Moment lang da und machte ein unbehagliches Gesicht. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber bevor er das konnte, schloss Catherine bereits die Tür.
Jack war mit seiner Mutter allein. Er hatte sich diesen Moment vorgestellt, seit er seine Fähigkeit zum ersten Mal be griffen hatte, und er hatte genau gewusst, was er sagen würde. Aber jetzt, wo dieser Moment gekommen war – wo seine tote Mutter quicklebendig vor ihm stand –, waren sämtliche vorformulierten Sätze wie weggefegt. Diese Frau kam ihm wie eine Fremde vor, ein Gesicht aus einem Foto. Er streckte seine zitternde Hand aus, um etwas zu trinken, und zog sie dann wieder zurück.
»Es tut so gut, dich zu sehen, Jack«, sagte Catherine sanft. »Du wirst ja ein richtig großer Kerl. Das hast du von deinem Vater.« Sie seufzte schwer. »Ich frage mich, was er zu all dem wohl sagen würde. Jack, er hat keine Ahnung, er weiß nichts von den Sachen, die wir machen. Er ist ein Zweitweltler bis ins Mark.«
Jack fragte sich, ob er ihr erzählen sollte, dass Dad jetzt im Gefängnis war, aber irgendwie kam es ihm unwichtig vor gegen alles andere, was er ihr sagen wollte. Endlich gelang es ihm, seine Stimme aus ihrem Versteck tief in seinem Inneren zu holen. »Mum«, krächzte er, »du bist in Gefahr.«
»Jack, es ist alles prima.«
»Nein, Mum, ist es gar nicht. Du musst sofort eine Tasche packen und von hier verschwinden.«
»Wieso?« Sie musterte ihn aufmerksam mit ihren grünen Augen. »Weil ich sterben werde?«
Jack ließ den Kopf sinken, aus heiterem Himmel über wältigt.
»Tut mir leid«, sagte sie. »Ich wollte dich nicht aufregen. Das muss sehr hart für dich sein.« Sie nahm ein Päckchen Zigaretten vom Fernseher und öffnete die kleine Balkontür. »Für mich ist es auch hart.« Sie zündete sich eine Zigarette an und blies grauen Rauch aus, den sie mit der anderen Hand wegwedelte. »Schlechte Angewohnheit, ich weiß. Hab ich von meinem alten Herrn.«
Schließlich sagte Jack: »Was weißt du über die Erste Welt?«
»Zu viel«, seufzte sie.
»Und du weißt, dass dein Leben in Gefahr ist?«
Catherine lächelte, während Rauchringe aus der offenen Tür trieben. »Das ist es schon, seit ich die Rose gestohlen habe.«
Jack wäre fast umgefallen. »Dann weißt du von der Rose? Was ist das, Mum? Was ist die Rose von Annwn?«
Catherine schmunzelte. »Weißt du es denn noch nicht?« Sie sah ihn an, wartete. »Jack, ich bin die Rose. Sie lebt in mir drin.«
Die Antwort ergab für ihn keinen Sinn. »Wie das?«
Catherine verdrehte die Augen. »Das ist eine lange Ge schichte.«
Jack versuchte seine Frustration zu unterdrücken. Er war die Halbwahrheiten leid. »Mum, meinst du nicht, ich habe es verdient, Bescheid zu wissen?«
»Ja, das tust du. Wenn es jemand verdient hat, die Wahrheit zu wissen, dann du, Jack.«
»Dann erzähl mir, wie du sie gestohlen hast. Erzähl mir, wie du die Rose sein kannst.«
Von nebenan war plötzlich ein Wimmern zu hören. Cathe rine sah auf und lachte.
»Das bist du, Jack, dein jüngeres Ich: Jo-Jo.« Da war der alte Spitzname wieder, der Name, der mit seiner Mutter gestorben war. Ihn von diesen Lippen zu hören, war wie ein Stich mit einer Nadel.
»Mum?« Ein Stimmchen aus dem Schlafzimmer.
Catherine drückte ihre Zigarette aus. »Er ist früh wach. Ich sehe besser mal nach ihm. Er hat Albträume, weißt du noch?«
Sie verließ den Raum und überließ es Jack, in seinem Frust zu verweilen.
Albträume. Von den Albträumen hatte er überhaupt nichts mehr gewusst. Wie konnte er die vergessen haben? Jo-Jo musste jetzt sieben Jahre alt sein, überlegte Jack, und nachts quälten ihn lebhafte Träume von seltsamen Orten. Einige Eindrücke aus diesen verstörenden Nächten kehrten jetzt zu rück. Er hatte geglaubt, sich richtig gut an diese Zeit zu erinnern, aber nun begriff er, wie viel davon in der Vergangenheit zurückgeblieben war.
Er ging zur offenen Balkontür, und seine Gedanken schweif ten ab. Wie konnte seine Mutter die Rose sein? Er lehnte sich gegen die kühle Metallbrüstung und betrachtete die Aussicht. Im Hof stand ein Mann und sah zu ihm herauf. Jack fuhr auf, seine
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