Jack Reacher 01: Größenwahn
gefunden, auf dem Boden, gegen die Umzäunung gelehnt, in der Nähe des Haupttors. Sie war teilweise mit Pappe bedeckt. Wir konnten die Fingerabdrücke abnehmen. Kein Ergebnis. Keinerlei Entsprechungen in der Datenbank.«
»Wer war er, Reacher?« fragte Finlay.
Baker wartete auf irgendeine Reaktion von mir. Er bekam keine. Ich saß einfach nur da und lauschte auf das ruhige Ticken der alten Uhr. Die Zeiger bewegten sich im Schneckentempo um halb drei herum. Ich sagte nichts. Baker blätterte die Akte durch und nahm ein anderes Blatt hervor. Er blickte wieder auf und fuhr fort:
»Das Opfer bekam zwei Schüsse in den Kopf«, sagte er. »Wahrscheinlich mit einer kleinkalibrigen Automatik mit Schalldämpfer. Der erste Schuß ging aus nächster Nähe in die linke Schläfe. Der zweite war ein aufgesetzter Schuß hinter dem linken Ohr. Offensichtlich Teilmantelgeschosse, denn beim Austritt rissen die Geschosse dem Mann einen Teil des Gesichts weg. Der Regen hat die Schmauchspuren abgespült, aber die Verbrennungen lassen auf einen Schalldämpfer schließen. Tödlich war der erste Schuß. Keine Geschosse im Schädel. Nirgendwo Patronenhülsen.«
»Wo ist die Waffe, Reacher?« fragte Finlay.
Ich blickte ihn an und zog ein Gesicht. Sagte nichts.
»Das Opfer starb zwischen halb zwölf und ein Uhr letzte Nacht«, warf Baker ein. »Die Leiche war um halb zwölf, als der Nachtwächter Feierabend machte, noch nicht da. Das hat er uns bestätigt. Sie wurde vom Wächter der Tagschicht entdeckt, als er das Tor aufschloß. Gegen acht Uhr. Er sah, wie Sie den Tatort verließen, und rief uns an.«
»Wer war er, Reacher?« fragte Finlay noch einmal.
Ich ignorierte ihn und sah Baker an.
»Warum vor ein Uhr?« fragte ich ihn.
»Der heftige Regen letzte Nacht begann um ein Uhr«, sagte er. »Der Boden unter der Leiche war knochentrocken. Also war die Leiche dort schon vor ein Uhr, bevor der Regen anfing. Laut Meinung des Gerichtsmediziners wurde der Mann um Mitternacht erschossen.«
Ich nickte. Lächelte sie an. Die Todeszeit würde mich entlasten.
»Sagen Sie uns, was dann passierte«, sagte Finlay ruhig.
Ich zuckte die Schultern.
»Sagen Sie es mir«, sagte ich. »Ich war nicht da. Ich war um Mitternacht in Tampa.«
Baker lehnte sich vor und zog ein weiteres Blatt Papier aus der Akte.
»Dann verloren Sie die Beherrschung«, sagte er. »Sie drehten durch.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ich war um Mitternacht nicht da«, sagte ich wieder. »Ich bestieg den Bus in Tampa. Das kann man wohl kaum durchdrehen nennen.«
Die beiden Cops reagierten nicht. Sie sahen ziemlich erbittert aus.
»Ihr erster Schuß tötete ihn«, sagte Baker. »Dann schossen Sie noch einmal, und dann drehten Sie durch und traten ihm die Seele aus dem Leib. Er weist massive postmortale Verletzungen auf. Sie erschossen ihn und traten ihn dann zu Brei. Sie kickten die Leiche über den ganzen verdammten Platz. Sie hatten einen Anfall von Raserei. Dann beruhigten Sie sich und versuchten, den Körper unter der Pappe zu verstecken.«
Ich schwieg eine ganze Weile.
»Postmortale Verletzungen?« fragte ich.
Baker nickte.
»Wie in einer Art Raserei«, sagte er. »Der Mann sieht aus, als sei er von einem Lkw überfahren worden. Fast jeder Knochen ist zertrümmert. Aber der Arzt sagt, das geschah erst nach Eintritt des Todes. Sie sind verrückt, Reacher, soviel ist sicher.«
»Wer war er?« fragte Finlay zum dritten Mal.
Ich sah ihn nur an. Baker hatte recht. Es war verrückt. Äußerst verrückt. Mordgierige Raserei ist schlimm genug. Aber postmortale Raserei ist schlimmer. Ich hatte ein paarmal Bekanntschaft damit gemacht. Legte keinen Wert auf eine Wiederholung. Aber wie sie es mir beschrieben hatten, ergab es keinen Sinn.
»Wie verlief das Treffen?« fragte Finlay.
Ich sah ihn weiterhin nur an. Antwortete nicht.
»Was bedeutet Pluribus?« fragte er.
Ich zuckte mit den Schultern. Sagte nichts.
»Wer war er, Reacher?« fragte er wieder.
»Ich war nicht dort«, sagte ich. »Ich weiß überhaupt nichts.«
Finlay schwieg.
»Wie ist Ihre Telefonnummer?« fragte er. Ganz plötzlich.
Ich sah ihn an, als wäre er verrückt.
»Finlay, wovon zum Teufel sprechen Sie? Ich habe kein Telefon. Hören Sie mir überhaupt nicht zu? Ich habe keinen festen Wohnsitz.«
»Ich meine Ihr Mobiltelefon«, sagte er.
»Was für ein Mobiltelefon?« fragte ich. »Ich habe kein Mobiltelefon.«
Plötzlich bekam ich es mit der Angst zu tun. Sie hielten mich für einen Mörder.
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