Jack Reacher 01: Größenwahn
noch nicht so viele Schwarze auf. Sie sind klug, aber kein Überflieger, also schätze ich, Ihren ersten Abschluß machten Sie auf der Boston University, richtig?«
»Richtig«, gab er zu.
»Und für den Doktor ging's nach Harvard«, sagte ich. »Sie waren gut an der Uni, die Zeiten änderten sich, also kamen Sie nach Harvard. Sie sprechen wie jemand aus Harvard. Den Eindruck hatte ich gleich. Dr. phil. in Kriminologie?«
»Richtig«, sagte er wieder. »Kriminologie.«
»Und im April haben Sie diesen Job hier bekommen«, sagte ich. »Das haben Sie mir erzählt. Sie bekommen eine Pension vom Boston Police Department, weil Sie Ihre zwanzig Dienstjahre hinter sich gebracht haben. Also sind Sie mit etwas Geld hierhergekommen. Aber Sie sind ohne Frau gekommen, denn sonst hätte sie etwas von dem Geld für neue Kleider für Sie ausgegeben. Wahrscheinlich würde Sie diesen Winteranzug aus Tweed an Ihnen hassen. Sie hätte ihn ausgemustert und Sie in ein dem hiesigen Klima angemessenes Outfit gesteckt, um Ihr neues Leben gleich richtig zu beginnen. Aber Sie tragen immer noch diesen schrecklichen, alten Anzug, also ist die Frau weg. Entweder gestorben, oder sie hat sich scheiden lassen, also hatte ich eine Chance von fünfzig zu fünfzig. Sieht aus, als hätte ich richtig geraten.«
Er nickte verblüfft.
»Und die Sache mit dem Rauchen ist leicht«, sagte ich. »Sie waren eben ziemlich angespannt, und da haben Sie auf der Suche nach Zigaretten Ihre Taschen abgeklopft. Also haben Sie vor noch nicht langer Zeit aufgehört. Es war nicht schwer zu raten, daß es im April war, Sie wissen schon: neues Leben, neuer Job, keine Zigaretten mehr. Sie dachten sich: Ich höre jetzt auf und tue so vielleicht was gegen den Krebs.«
Finlay starrte mich an. Etwas widerstrebend.
»Sehr gut, Reacher«, sagte er. »Einfache Deduktion, nicht wahr?«
Ich zuckte mit den Schultern. Sagte nichts.
»Dann deduzieren Sie doch mal, wer den Mann am Lagerhaus ausgeschaltet hat«, sagte er.
»Mir ist egal, wer irgendwo einen Mann ausgeschaltet hat«, sagte ich. »Das ist Ihr Problem, nicht meins. Und es ist auch die falsche Frage, Finlay. Zuerst müssen Sie herausfinden, wer der Mann war, richtig?«
»Und wissen Sie, wie man das machen soll, Sie Besserwisser?« fragte er mich. »Ohne Ausweis, ohne Gesicht, ohne Rückmeldung von den Fingerabdrücken, und wenn Hubble kein Sterbenswörtchen sagt?«
»Geben Sie die Fingerabdrücke noch mal in den Computer«, sagte ich. »Im Ernst, Finlay. Beauftragen Sie Miss Roscoe damit.«
»Warum«, fragte er.
»Weil hier was faul ist«, sagte ich.
»Was soll hier faul sein?« fragte er mich.
»Geben Sie sie noch mal ein, okay?« sagte ich. »Werden Sie das tun?«
Er grunzte nur. Sagte weder ja noch nein. Ich öffnete die Bürotür und ging hinaus. Roscoe war nicht mehr da. Niemand war da, außer Baker und Hubble drüben bei den Zellen. Durch die Eingangstüren konnte ich den Wachhabenden draußen sehen. Er schrieb etwas auf ein Klemmbrett, das ihm der Fahrer des Gefängnisbusses hinhielt. Der Gefängnisbus gab den Hintergrund ab. Er war auf dem Halbkreis der Einfahrt geparkt. Die ganze Länge der großen, gläsernen Eingangstüren war von seinem Anblick ausgefüllt. Es war ein Schulbus, den man hellgrau angestrichen hatte. Auf der Längsseite stand: State of Georgia Department of Corrections. Unter der Schrift war ein Emblem. Vor die Fenster waren Gitter geschweißt worden.
Finlay kam hinter mir aus dem Büro. Er berührte meinen Ellbogen und brachte mich rüber zu Baker. Baker hatte drei Paar Handschellen über seinen Daumen gehängt. Sie waren in leuchtendem Orange gestrichen. Die Farbe war teilweise abgeblättert, matter Stahl schimmerte hindurch. Baker ließ je einen Reif von zwei Paar Handschellen um eins meiner Handgelenke schnappen. Er schloß Hubbles Zelle auf und winkte den Banker heraus. Hubble wirkte benommen. Baker nahm die Handschelle von meinem linken Arm und ließ den zweiten Reif um Hubbles rechtes Handgelenk einrasten. Einen Reif des dritten Paars befestigte er an Hubbles anderem Handgelenk. Fertig zum Aufbruch.
»Nehmen Sie seine Uhr, Baker«, sagte ich. »Er wird sie im Gefängnis verlieren.«
Er nickte. Er wußte, was ich meinte. Typen wie Hubble konnten im Gefängnis eine Menge verlieren. Baker löste die schwere Uhr von Hubbles Handgelenk. Das Armband ging nicht über die Handschelle, also mußte Baker sie mühsam abnehmen und wieder anbringen. Der Fahrer vom Gefängnis stieß
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