Jack Reacher 01: Größenwahn
sah sie zu mir herüber und nickte.
»Finlay sagte mir, daß Sie den Vorschlag gemacht hatten. Aber warum?«
»Das negative Ergebnis kam zu schnell zurück«, sagte ich.
»Zu schnell?«
»Sie haben gesagt, es sei ein Pyramidensystem, richtig? Die ersten zehn, die ersten hundert, die ersten tausend und dann bis nach ganz unten, richtig?«
Sie nickte wieder.
»Dann nehmen Sie mal mich als Beispiel. Ich bin zwar in der Datenbank, aber ziemlich weit unten. Sie sagten gerade, es hätte vierzehn Stunden gebraucht, um bis zu mir zu kommen, richtig?«
»Richtig«, bestätigte sie. »Ich habe Ihre Abdrücke am Mittag gegen halb eins eingegeben, und sie wurden um halb drei morgens gefunden.«
»Okay, vierzehn Stunden. Wenn es also vierzehn Stunden dauert, fast das Ende der Pyramide zu erreichen, dann braucht es mehr als vierzehn Stunden, bis ganz nach unten zu kommen. Logisch, oder?«
»Logisch.«
»Aber was war mit dem Toten?« fragte ich. »Die Leiche wurde um acht Uhr gefunden - wann wurden die Abdrücke also eingegeben? Halb neun frühestens. Aber Baker erzählte mir schon um halb drei, als wir miteinander sprachen, daß sie zu niemandem paßten. Ich erinnere mich ganz genau an die Zeit, weil ich auf die Uhr sah. Das sind nur sechs Stunden. Wenn es vierzehn Stunden dauert, um herauszufinden, daß ich in der Datenbank bin, wie konnte es dann nur sechs Stunden dauern, um zu sagen, daß der Tote nicht drin ist?«
»Mein Gott, Sie haben recht. Baker muß es vermasselt haben. Finlay nahm die Fingerabdrücke, und Baker gab sie ein. Er muß das beim Einscannen vermasselt haben. Man muß sehr vorsichtig sein, sonst ist die Übertragung nicht deutlich. Und wenn der Scan nicht deutlich ist, versucht die Datenbank, ihn zu entziffern, und er kommt als unlesbar zurück. Baker muß gedacht haben, das hieße: kein Ergebnis. Die Codes sind ähnlich. Jedenfalls habe ich sie wieder eingegeben, als erstes. Wir werden bald eine Antwort haben.«
Wir fuhren nach Osten, und Roscoe erzählte mir, sie habe Finlay schon gestern gedrängt, mich nachmittags aus Warburton rauszuholen. Finlay hatte zugestimmt, aber es gab ein Problem. Sie mußten bis heute warten, weil Warburton am Nachmittag schon geschlossen worden war. Finlay war mitgeteilt worden, es hätte Ärger in einem Waschraum gegeben. Ein Strafgefangener war tot, ein weiterer hatte ein Auge verloren. Ein regelrechter Aufruhr war losgebrochen, weiße Gangs gegen schwarze.
Ich saß einfach nur neben Roscoe und sah zu, wie der Horizont näherkam. Gut, ich hatte jemanden getötet, und ein zweiter war durch mich halb blind geworden. Jetzt mußte ich mich mit meinen Gefühlen auseinandersetzen. Aber ich fühlte nicht viel. Gar nichts eigentlich. Keine Schuld, keine Gewissensbisse. Nichts. Diese Arischen im Waschraum waren schlimmer als Abschaum. Ich hatte einem von ihnen in die Kehle getreten, und er war an seinem zerschmetterten Kehlkopf erstickt. Aber er hatte angefangen. Als er mich angriff, hatte er eine verbotene Tür aufgestoßen. Was hinter der Tür auf ihn wartete, war sein Problem. Sein Risiko. Er hätte die verdammte Tür nicht aufstoßen sollen. Ich zuckte die Schultern und vergaß das Ganze. Blickte hinüber zu Roscoe.
»Danke«, sagte ich. »Das meine ich ernst. Sie haben hart gearbeitet, um mir zu helfen.«
Sie errötete, wischte meinen Dank mit einer flüchtigen Handbewegung weg und fuhr einfach weiter. Ich fing an, sie wirklich zu mögen. Aber wahrscheinlich nicht genug, um davon abzusehen, so schnell wie möglich aus Georgia zu verschwinden. Vielleicht würde ich nur noch ein oder zwei Stunden bleiben und sie dann bitten, mich zu irgendeinem Busbahnhof zu fahren.
»Ich möchte Sie zum Mittagessen einladen«, sagte ich. »Sozusagen als Dank.«
Sie dachte etwa eine halbe Meile darüber nach und lächelte mich dann an.
»Okay.«
Sie schwenkte nach rechts auf die Landstraße ein und beschleunigte in Richtung Süden. Fuhr an Enos glänzendem neuen Restaurant vorbei und weiter in Richtung Margrave.
KAPITEL 9
Ich überredete sie dazu, für mich kurz beim Revier reinzuspringen und mir den Beutel mit meinem Geld und den persönlichen Sachen zu holen. Dann fuhren wir weiter, und sie ließ mich im Zentrum von Margrave aussteigen. Ich machte mit ihr ab, daß wir uns in ein paar Stunden im Revier treffen würden. Ich stand in der heißen Sonne des Sonntagmorgens auf dem Bürgersteig und winkte ihr hinterher. Ich fühlte mich sehr viel besser. Ich war wieder in Bewegung.
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