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Jack Reacher 01: Größenwahn

Jack Reacher 01: Größenwahn

Titel: Jack Reacher 01: Größenwahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Child
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wie ein Mann in der Arktis, dessen Welt sich durch einen einzigen Schritt verändert hatte.
    Sie brachten mich zu den Kühlkammern im hinteren Teil, damit ich seine Leiche offiziell identifizierte. Sein Gesicht war durch die Schüsse weggerissen worden, und alle seine Knochen waren zertrümmert, aber ich erkannte die sternförmige Narbe an seinem Hals. Er hatte sie von einem Unfall vor neunundzwanzig Jahren, als wir mit einer zerbrochenen Flasche herumgespielt hatten. Dann brachten sie mich zurück nach Margrave. Finlay fuhr. Roscoe saß mit mir auf dem Rücksitz und hielt den ganzen Weg meine Hand. Die Fahrt dauerte nur zwanzig Minuten, aber in dieser Zeit durchlebte ich zwei Leben, Seins und meins.
    Mein Bruder Joe. Zwei Jahre älter als ich. Er war am Ende der Eisenhower-Ära auf einem Stützpunkt im Femen Osten geboren worden. Dann kam ich auf einem Stützpunkt in Europa zur Welt, direkt zu Beginn der Kennedy-Ära. Wir wuchsen zusammen in dem engen, isolierten Provisorium auf, das Militärfamilien sich erschaffen, wenn die ganze Welt ihr Zuhause sein muß. Unser Leben verlief willkürlich und in unvorhersehbaren Etappen. So daß es sich seltsam anfühlte, länger als ein halbes Jahr an einem Ort zu bleiben. Manchmal erlebten wir jahrelang keinen Winter. Wir zogen zu Beginn des Herbstes aus Europa ab und wurden irgendwo am Pazifik stationiert, wo der Sommer gerade anfing.
    Unsere Freunde verschwanden unaufhörlich. Eine Einheit wurde irgendwohin verschifft, und ein Haufen Kinder ging mit. Manchmal trafen wir sie Monate später an einem anderen Ort. Aber sehr viele sahen wir niemals wieder. Niemand sagte hallo oder auf Wiedersehen. Man war eben entweder da oder nicht da.
    Als Joe und ich dann älter wurden, schickte man uns noch mehr herum. Vietnam brachte es mit sich, daß das Militär die Leute auf der ganzen Welt schneller und schneller umbesetzte. Das Leben war nur noch eine schwindelerregende Aufeinanderfolge von Stützpunkten. Wir besaßen niemals irgend etwas. Jeder durfte nur eine Tasche in die Transportflugzeuge mitnehmen.
    Sechzehn Jahre waren wir in diesem Provisorium zusammen. Joe war die einzige Konstante in meinem Leben. Und ich liebte ihn, wie man einen Bruder liebt. Doch dieser Satz muß wörtlich genommen werden. Viele dieser Redensarten müssen wörtlich genommen werden. Zum Beispiel wenn es heißt, man habe geschlafen wie ein Baby. Bedeutet das, man habe gut geschlafen? Oder bedeutet das, daß man alle zehn Minuten weinend aufgewacht ist? Ich liebte Joe, wie man einen Bruder liebt, und das bedeutete in unserer Familie vielerlei.
    Die Wahrheit ist, ich wußte nie genau, ob ich ihn liebte oder nicht. Und er wußte auch nie genau, ob er mich liebte oder nicht. Wir waren nur zwei Jahre auseinander, aber er war in den Fünfzigern geboren und ich in den Sechzigern. Wir hatten den Eindruck, daß dies eine größere Entfernung ausmachte als nur zwei Jahre. Und wie alle Brüder, die zwei Jahre auseinanderliegen, gingen wir uns ziemlich auf die Nerven. Wir kämpften und stritten und warteten mürrisch darauf, älter zu werden und endlich wegzukommen. Die meiste Zeit in den sechzehn Jahren wußten wir nicht, ob wir einander liebten oder haßten.
    Aber wir hatten das, was alle Familien in der Armee hatten. Die Familie war die eigene Einheit. Den Männern auf den Stützpunkten wurde absolute Loyalität gegenüber ihren Einheiten beigebracht. Das war die wichtigste Sache in ihrem Leben. Die Kinder kopierten das. Sie übertrugen dieselbe ausgeprägte Loyalität auf ihre Familien. Also haßte man vielleicht seinen Bruder ab und an, doch ließ man es nicht zu, daß sich irgend jemand mit ihm anlegte. Das verband uns, Joe und mich. Wir hatten diese bedingungslose Loyalität. Wir standen Rücken an Rücken auf jedem neuen Schulhof und boxten uns zusammen einen Weg aus allen Schwierigkeiten. Ich paßte auf ihn auf, und er paßte auf mich auf, wie es Brüder eben tun. Sechzehn Jahre lang. Das war nicht gerade eine normale Kindheit, aber die einzige Kindheit, die ich je hatte. Und Joe war deren Anfang und Ende. Und jetzt hatte ihn jemand umgebracht. Ich saß dort auf dem Rücksitz des Polizei-Chevrolets und hörte, wie eine winzige Stimme in meinem Kopf fragte, was zum Teufel ich jetzt machen sollte.

    Finlay fuhr durch Margrave hindurch und parkte vor dem Revier. Direkt am Bordstein vor den großen gläsernen Eingangstüren. Er und Roscoe stiegen aus dem Wagen und warteten auf mich, genau wie Baker und Stevenson es

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