Jack Reacher 01: Größenwahn
Roscoe wird eine Menge Arbeit haben. Sie sollte im Moment nicht abgelenkt werden, meinen Sie nicht auch?«
»Ich werde sie nicht ablenken«, erwiderte ich ruhig. »Ich weiß, daß ihre Arbeit sehr wichtig ist.«
Er sah mich an. Mit ausdruckslosem Blick. Auge in Auge, aber er war eigentlich nicht groß genug dazu. Sein dürrer, alter Hals würde steif werden. Und wenn er mich weiterhin so anstarrte, mußte sein dürrer, alter Hals demnächst brechen. Ich schenkte ihm ein frostiges Lächeln und ging zum Bentley. Schloß ihn auf und stieg ein. Ließ den großen Motor hochdrehen und kurbelte das Fenster herunter.
»Bis später, Teale«, rief ich ihm zu, als ich anfuhr.
Die Zeit nach Schulende war die geschäftigste, die ich bisher in der Stadt erlebt hatte. Ich fuhr an zwei Leuten auf der Main Street vorbei und sah weitere vier in einem Grüppchen vor der Kirche. Vielleicht eine Art Verein. In dem man zusammen die Bibel las oder Pfirsiche für den Winter einmachte. Ich fuhr an ihnen vorbei und scheuchte den großen Wagen die Luxusmeile des Beckman Drive hoch. Bog an Hubbles weißem Briefkasten ein und manövrierte mich mit dem alten Lenkrad aus Bakelit durch die Windungen der Zufahrt.
Das Problem, wenn ich Charlie warnen wollte, war, daß ich nicht wußte, wieviel ich ihr erzählen sollte. Sicher würde ich ihr keine Einzelheiten mitteilen. Hatte auch überhaupt keine Lust, ihr zu sagen, daß ihr Mann tot war. Wir befanden uns in einer Art Niemandsland. Aber ich konnte sie nicht für immer im dunkeln tappen lassen. Sie mußte etwas über die Zusammenhänge wissen. Sonst würde sie nicht auf meine Warnung hören.
Ich parkte ihren Wagen an der Tür und läutete. Die Kinder stürzten von irgendwoher, als Charlie öffnete und mich hereinließ. Sie sah ziemlich müde und angespannt aus. Die Kinder wirkten unbekümmert. Sie hatten die Sorge ihrer Mutter nicht bemerkt. Sie scheuchte sie weg, und ich folgte ihr in die Küche. Es war ein großer, moderner Raum. Ich bat sie, mir Kaffee zu machen. Ich konnte sehen, daß sie unbedingt mit mir reden wollte, aber nicht wußte, wie sie anfangen sollte. Ich beobachtete, wie sie an der Kaffeemaschine herumfummelte.
»Haben Sie keine Hausangestellte?« fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich möchte keine«, sagte sie. »Ich mache die Dinge lieber selbst.«
»Es ist aber ein großes Haus.«
»Ich schätze, ich bin gern beschäftigt.«
Dann schwiegen wir. Charlie schaltete die Kaffeemaschine ein, die mit einem schwachen Fauchen anfing zu arbeiten. Ich saß in einer Fensternische an einem Tisch. Man konnte einen Morgen samtiger Rasenfläche überblicken. Sie kam und setzte sich mir gegenüber. Faltete die Hände.
»Ich habe das mit den Morrisons gehört«, sagte sie schließlich. »Hat mein Mann etwas damit zu tun?«
Ich versuchte zu überlegen, was genau ich ihr sagen konnte. Sie wartete auf eine Antwort. Die Kaffeemaschine gluckerte in der großen, stillen Küche.
»Ja, Charlie«, sagte ich schließlich. »Ich fürchte, das hatte er. Aber er wollte es nicht, okay? Es handelte sich um eine Art Erpressung.«
Sie nahm es gut auf. Sie mußte es sich schon selbst so zurechtgelegt haben. Mußte sich jede Möglichkeit durch den Kopf gehen lassen haben. Diese Erklärung war eine, die stimmig war. Deshalb wirkte sie auch nicht überrascht oder empört. Sie nickte nur. Dann entspannte sie sich. Als hätte es ihr gutgetan, daß jemand anders es sagte. Jetzt war es heraus. Jetzt war es bestätigt. Man konnte damit umgehen,
»Ich fürchte, das ergibt Sinn«, sagte sie.
Sie stand auf, um Kaffee einzuschenken. Redete dabei weiter.
»Nur so kann ich mir sein Verhalten erklären. Ist er in großer Gefahr?«
»Charlie, ich habe doch nicht einmal die geringste Ahnung davon, wo er ist.«
Sie gab mir einen Becher Kaffee. Setzte sich an die Küchentheke.
»Ist er in Gefahr?« fragte sie noch einmal.
Ich konnte nicht antworten. Konnte nichts herausbringen. Sie kam von der Theke und setzte sich wieder an den Tisch am Fenster. Sie hielt ihren Becher vor sich. Sie war eine gutaussehende Frau. Blond und schön. Perfekte Zähne, schlank, sportlich. Eine Menge Entschlossenheit. Ich hatte sie als Plantagentyp gesehen. Was man eine belle nennt. Ich hatte zu mir selbst gesagt, daß sie vor hundertfünfzig Jahren eine Sklavenhalterin gewesen wäre. Jetzt begann ich meine Meinung zu ändern. Ich fühlte, wie knisternde Zähigkeit von ihr ausging. Sie genoß es, reich und müßig zu sein,
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