Jack Reacher 03: Sein wahres Gesicht
beibringt.«
Sein Dienstzimmer war ruhig und kühl. Keine Fenster, dezente indirekte Beleuchtung, hochfloriger Teppichboden. Ein Schreibtisch aus Rosenholz, bequeme Ledersessel für die Besucher. Und auf einem Sideboard eine leise tickende, elegante Kaminuhr, die bereits fünfzehn Uhr dreißig anzeigte. Nur noch dreieinhalb Stunden bis zum Rückflug.
»Wir sind aus einem ganz bestimmten Grund hier, General«, begann Reacher. »Dies ist nicht nur ein freundschaftlicher Besuch, fürchte ich.«
»Freundschaftlich genug, dass Sie mich nicht General nennen müssen. Sagen Sie einfach Nash zu mir, okay? Und berichten Sie mir, was Sie auf dem Herzen haben.«
Reacher nickte. »Wir brauchen Ihre Hilfe, Nash.«
Newman sah auf. »In Bezug auf Vermisstenlisten?«
Dann wandte er sich erklärend an Jodie.
»Die bearbeite ich nämlich hier«, sagte er. »Ich tue seit zwanzig Jahren nichts anderes.«
Sie nickte. »Es geht um einen speziellen Fall, in den wir irgendwie verwickelt sind.«
Newman nickte ebenfalls.
»Ja, das habe ich befürchtet«, sagte er. »Wir haben hier neunundachtzigtausendeinhundertzwanzig Vermisstenfälle, aber ich wette, ich weiß, welcher Sie interessiert.«
»Neunundachtzigtausend?«, wiederholte Jodie überrascht.
»Und einhundertzwanzig. Zweitausendzweihundert Vermisste aus Vietnam, achttausendeinhundertsiebzig aus Korea, achtundsiebzigtausendsiebenhundertfünfzig aus dem Zweiten Weltkrieg. Wir haben keinen einzigen dieser Soldaten aufgegeben und werden das auch niemals tun.«
»Gott, warum so viele?«
Newman zuckte mit den Schultern. Seine Miene hatte sich verdüstert.
»Kriege«, sagte er. »Sprengstoff, taktische Bewegungen, Flugzeuge. Kriege werden geführt, manche Kombattanten überleben, manche nicht. Einige der Gefallenen werden geborgen, andere nicht. Manchmal gibt es nichts mehr zu bergen. Ein Artillerievolltreffer zum Beispiel zerlegt den Körper eines Mannes in seine Moleküle. Er ist einfach nicht mehr da. Ein Treffer aus der Nähe reißt ihn in Stücke. Und in einem Kampf geht’s um Geländegewinn, stimmt’s? Selbst wenn die Stücke ziemlich groß sind, werden sie von feindlichen oder eigenen Panzern, die übers Schlachtfeld rollen, so untergepflügt, dass sie spurlos verschwinden.«
Er schwieg eine Weile, während der Sekundenzeiger der Uhr unaufhaltsam weiterrückte.
»Und Flugzeuge sind noch schlimmer. Viele unserer Luftgefechte sind über den Weltmeeren geführt worden. Stürzt ein Flugzeug ins Meer, bleibt seine Besatzung auf ewig vermisst, selbst wenn wir uns an einem Ort wie diesem noch so viel Mühe geben.«
Newman machte eine vage Handbewegung, die sein Dienstzimmer und alle nicht sichtbaren Räume umfasste und damit endete, dass seine ausgestreckte Hand mit nach oben gekehrter Handfläche wie in einem stummen Appell auf Jodie wies.
»Neunundachtzigtausend«, sagte sie. »Ich dachte, bei den Vermissten ginge es nur um Gefallene in Vietnam. Um ungefähr zweitausend Fälle.«
»Neunundachtzigtausendeinhundertzwanzig«, wiederholte Newman pedantisch. »Wir bekommen noch immer ein paar aus Korea, gelegentlich einen aus dem Zweiten Weltkrieg, von den ehemals japanisch besetzten Inseln. Aber Sie haben Recht, das Hauptgewicht unserer Arbeit liegt auf Vietnam. Zweitausendzweihundert Vermisste. Eigentlich nicht sehr viele. Im Ersten Weltkrieg sind an einem einzigen Morgen mehr Soldaten gefallen - vier schreckliche Jahre lang jeden Morgen. Jungen und Männer im Morast von Granaten zerrissen. Aber Vietnam war anders. Das ist zum Teil auf die Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg zurückzuführen. Wir lassen uns zu Recht nicht mehr auf ein solches Gemetzel ein. Bei uns ist ein Bewusstseinswandel eingetreten. Unsere Bevölkerung würde diese Art Kriegführung nicht mehr billigen.«
Jodie nickte.
»Und wir haben den Krieg in Vietnam verloren«, sagte Newman ernst. »Der einzige Krieg, den wir je verloren haben. Das macht unsere Verluste schmerzlicher. Deshalb strengen wir uns noch mehr an, sie aufzuklären.«
»Wie gehen Sie also vor?«, fragte Jodie. »Warten Sie darauf, dass irgendwo im Ausland Skelette gefunden werden, um sie dann zur Identifizierung herzubringen? Damit Sie weitere Namen aus den Vermisstenlisten streichen können?«
Newman wiegte den Kopf, um anzudeuten, dass das so nicht ganz stimmte. »Nun, wir warten keineswegs nur passiv. Wo wir können, ziehen wir auch los, um sie zu suchen. Und wir identifizieren sie nicht immer, obwohl wir uns die größte Mühe
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