Jack Reacher 03: Sein wahres Gesicht
neuartige Zahnbehandlung sich allmählich über ganz Amerika ausbreiten, sodass der Dreizehnjährige, bei dem sie in Des Moines angewandt wurde, fünf Jahre älter sein musste als der Dreizehnjährige, bei dem sie in Los Angeles erfolgte. Und das Einkommen ihrer Eltern entschied darüber, ob sie überhaupt in den Genuss dieser Methode kamen. Die Highschool-Footballstars wurden alle wegen Schulterverletzungen behandelt, die Softballspieler hatten Handgelenkbrüche, die Schwimmer chronische Ohrentzündungen.
Von all dem hatte Victor Hobie sehr wenig mitbekommen. Newman, der zwischen den Zeilen las, stellte sich einen gesunden Jungen vor, der von pflichtbewussten Eltern anständig ernährt und gewissenhaft erzogen wurde. Sein Gesundheitszustand war überdurchschnittlich gut gewesen. Er hatte nur gelegentlich eine Erkältung oder eine Grippe gehabt und sich als Achtjähriger eine Bronchitis zugezogen. Keine Unfälle. Keine Knochenbrüche. Sein Zahnarzt war sehr gründlich gewesen. Der Junge war in einer Zeit aufgewachsen, in der invasive Prophylaxe in der Zahnheilkunde in Mode kam. Nach Newmans Erfahrung war das absolut typisch für jemanden, der Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre in New York und Umgebung groß geworden war. Die damaligen Zahnärzte hatten Krieg gegen Löcher in den Zähnen geführt und spürten sie mit starken Röntgenstrahlen auf. Sobald sie entdeckt waren, wurden sie mit dem Bohrer vergrößert und mit Amalgam gefüllt. Das bedingte zahlreiche Zahnarztbesuche, die für den jungen Victor Hobie sicher schmerzhaft gewesen waren, aber aus Newmans Sicht den Vorteil hatten, dass es einen dicken Stapel technisch guter Röntgenaufnahmen vom Mund- und Rachenraum des Jungen gab, die sich bestens auswerten ließen.
Er nahm die Filme, trat auf den Korridor hinaus, sperrte die unbeschriftete Tür in der Wand aus Hohlblocksteinen auf und ging an den glänzenden Aluminiumsärgen vorbei zu der Nische in der Rückwand des Labors. Dort stand auf einer breiten Arbeitsplatte ein Computerterminal, das vom Raum aus nicht zu sehen war. Als Newman sich einloggte und das Suchmenü aufrief, erschien auf dem Bildschirm ein detaillierter Fragebogen.
Beim Ausfüllen des Bogens musste er nur logisch vorgehen. Er klickte ALLE KNOCHEN an und schrieb KEINE BRÜCHE IN KINDHEIT UND JUGEND; SPÄTERE BRÜCHE MÖGLICH. Der Junge hatte sich als Footballspieler in der Highschool nichts gebrochen, konnte sich aber später einen Knochenbruch zugezogen haben. Beim Militär gingen Krankenakten manchmal verloren. Newman verwandte viel Zeit darauf, den zahnärztlichen Teil des Fragebogens auszufüllen. Er gab die letzte bekannte Beschreibung jedes einzelnen Zahns an. Er markierte die vorhandenen Plomben und kennzeichnete alle gesunden Zähne als MÖGLICHERWEISE PLOMBIERT. Das war nur logisch. Er begutachtete die Röntgenaufnahmen und vermerkte bei ZAHNSTELLUNG als Befund GLEICHMÄSSIG und bei GRÖSSE nochmals GLEICHMÄSSIG. Den Rest des Fragebogens ließ er unausgefüllt. Manche Krankheiten zeigten sich im Skelett, nicht jedoch Erkältungen, Grippe und Bronchitis.
Er sah seine Eintragungen nochmals durch und klickte um Punkt sieben den Befehl SUCHE an. Die Festplatte summte und surrte in der Morgenstille, und die Software begann mit der Durchforschung der gespeicherten Daten.
Sie landeten zehn Minuten früher als vorgesehen, nach New Yorker Zeit kurz vor Mittag. Jodie stellte ihre Armbanduhr vor und war schon auf den Beinen, bevor die Maschine zum Stillstand gekommen war - ein Verstoß gegen die Sicherheitsbestimmungen, für den man in der ersten Klasse nicht getadelt wurde.
»Komm«, sagte sie. »Ich hab’s eilig.«
Sie warteten schon an der Tür, noch bevor sie geöffnet wurde. Reacher trug wieder die Reisetasche, und Jodie hastete vor ihm her durchs Terminal und ins Freie. Der Lincoln Navigator stand auf der Fläche für Kurzzeitparker, und Reacher musste achtundfünfzig Dollar hinlegen, um ihn auszulösen.
»Habe ich noch Zeit, unter die Dusche zu gehen?«, fragte sich Jodie laut.
Reachers einziger Kommentar bestand darin, dass er auf dem Van Wyck Parkway schneller als erlaubt fuhr. Auf dem Long Island Expressway floss der Verkehr flüssig nach Westen in Richtung Tunnel. So waren sie dreißig Minuten nach der Landung auf dem Lower Broadway in der Nähe von Jodies Wohnung.
»Ich kontrolliere den Weg trotzdem«, sagte er. »Ob du’s eilig unter die Dusche hast oder nicht.«
Sie nickte. Seit sie wieder New Yorker
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