Jack Reacher 03: Sein wahres Gesicht
machst du in Gedanken Musik. Das sieht man an deinen Fingern, mit denen du Klavier oder irgendein anderes Instrument zu spielen scheinst. Und deine Nasenspitze bewegt sich ein bisschen, wenn du redest.«
»Tatsächlich?«
»Ja«, sagte Jodie. »Worüber hast du nachgedacht?«
Er zuckte mit den Schultern.
»Über Verschiedenes«, antwortete er.
»Über das Haus, stimmt’s?«, sagte sie. »Es macht dir Sorgen. Und über mich. Das Haus und ich, wir beide halten dich gefesselt wie diesen Kerl in dem Buch, Gulliver? Kennst du die Geschichte?«
Er lächelte. »Sie handelt von einem schlafenden Kerl, den Liliputaner gefangen nehmen. Sie fesseln ihn mit hunderten fadendünner Seile, sodass er nicht mehr fliehen kann.«
»Du fühlst dich wie er?«
Er machte eine kurze Pause. »Nicht in Bezug auf dich.«
Aber diese Pause war ein bisschen zu lang gewesen. Jodie nickte verständnisvoll.
»Es ist anders, als allein zu sein«, sagte sie. »Ich weiß, wie dir zumute ist - ich war verheiratet. Jemand, an den man die ganze Zeit denken muss? Um den man sich Sorgen macht?«
Reacher lächelte erneut. »Ich werde mich daran gewöhnen.«
»Und dazu kommt noch das Haus, nicht?«
Er zuckte mit den Schultern. »Kommt mir ungewohnt vor.«
»Nun, das ist etwas, das nur Leon und dich angeht«, sagte sie. »Ich möchte, dass du weißt, dass ich keine Forderungen an dich stelle. In keiner Beziehung. Du entscheidest selbst über dein Leben - und über dein Haus. Du sollst tun, was du für richtig hältst, ohne dich irgendwie unter Druck gesetzt zu fühlen.«
Er nickte. Äußerte sich nicht dazu.
»Du willst also versuchen, Hobie aufzuspüren?«
»Vielleicht. Aber das ist eine verdammt schwierige Aufgabe.«
»Trotzdem muss es Hinweise geben«, sagte sie. »Krankenakten und dergleichen. Er muss eine Prothese tragen. Und wenn er schwere Brandverletzungen hat, müssen sie irgendwo behandelt worden sein. Und auf der Straße wäre er kaum zu übersehen. Ein durch Brandwunden entstellter einarmiger Mann.«
Reacher nickte. »Oder ich warte einfach darauf, dass er mich findet. Ich könnte in Garrison herumhängen, bis er seine Jungs wieder vorbeischickt.«
Er betrachtete seine Schuhspitzen und erkannte plötzlich: Ich akzeptiere gerade, dass er noch lebt, dass ich mich gründlich geirrt habe. Er sah wieder zu Jodie hinüber.
»Leihst du mir für heute dein Handy? Kommst du einen Tag ohne aus? Für den Fall, dass Nash etwas findet und mich anruft. Ich möchte erreichbar sein.«
Sie erwiderte seinen Blick und nickte. Beugte sich nach unten, nahm das Handy aus der Tasche und gab es ihm.
»Ich drücke dir die Daumen«, sagte sie.
Er nickte und steckte das Gerät ein.
»Darauf war ich früher nie angewiesen«, meinte er.
Nash Newman wartete nicht bis neun Uhr morgens, um seine Suche zu beginnen. Er war ein gewissenhafter Mann, der aus Veranlagung, nicht nur aus berufsbedingter Notwendigkeit, auf kleinste Einzelheiten achtete. Dies war eine inoffizielle Suche, die er für einen besorgten Freund unternahm. Deshalb konnte er sie nicht in der Dienstzeit durchführen. Eine Privatangelegenheit musste privat geregelt werden.
Deshalb stand er um sechs Uhr auf. Er schaltete die Kaffeemaschine ein und zog sich an. Um sechs Uhr dreißig war er im Labor. Er nahm sich vor, höchstens zwei Stunden auf diese Tätigkeit zu verwenden. Dann würde er im Kasino frühstücken und seine eigentliche Arbeit wie jeden Tag pünktlich um neun Uhr beginnen.
Er zog eine Schreibtischschublade auf und nahm Victor Hobies Krankenakte heraus. Leon Garber hatte sie durch geduldige Nachforschungen bei Ärzten und Zahnärzten im Putnam County zusammengestellt, sie in einem alten Ordner der Militärpolizei abgelegt und mit einem alten Leinenband verschnürt. Das ursprünglich rote Band war zu einem staubigen Rosa verblasst. Seine Metallschließe ließ sich nur schwer öffnen.
Als er es geschafft hatte, schlug er den Ordner auf. Das erste Blatt war eine von den Hobies im April unterschriebene Einverständniserklärung. Darunter lag die alte Krankengeschichte. Newman, der schon viele tausend solcher Geschichten gelesen hatte, konnte die Jungen, von denen sie handelten, mühelos in Bezug auf ihr Alter, ihren Wohnort, die Einkommensverhältnisse ihrer Eltern und ihre sportlichen Fähigkeiten einordnen, weil alle diese Faktoren Einfluss auf ihre Krankengeschichte hatten. Alter und Wohnort wirkten sich gemeinsam aus. Beispielsweise konnte eine in Kalifornien entwickelte
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