Jack Reacher 03: Sein wahres Gesicht
Aktenschrank und ein Sofa. Das einzige Fenster hatte undurchsichtige Milchglasscheiben, und eine weitere Tür führte geradeaus in ein Büro.
Der Empfangsbereich war still und leer. Reacher trat ein und drückte die Tür mit dem Absatz hinter sich zu. Das Türschloss schnappte nicht ein, als sei das Büro zur üblichen Geschäftszeit geöffnet gewesen. Er ging lautlos über den Teppich zur inneren Tür. Wickelte seine Hand in das aus der Hose gezogene Hemd und drehte den Türknopf nach links. Betrat einen zweiten gleich großen Raum. Costellos Büro. Gerahmte Schwarzweißfotos zeigten jüngere Versionen des Mannes, den er in Key West getroffen hatte, mit Polizeipräsidenten, Captains und Lokalpolitikern, die Reacher nicht kannte. Vor vielen Jahren war Costello sportlich schlank gewesen. Die Erinnerungsfotos waren an der Wand rechts neben dem Schreibtisch gruppiert, auf dem sich eine Schreibunterlage, eine altmodische Schreibgarnitur und ein Telefon befanden. Hinter dem Schreibtisch stand ein Drehsessel, in dessen Lederpolster sich die Umrisse eines schweren Mannes eingedrückt hatten. An der linken Wand mit dem Fenster, das ebenfalls undurchsichtige Scheiben besaß, standen mehrere verschlossene Karteischränke. Vor dem Schreibtisch waren zwei Besuchersessel ordentlich in einem Winkel zueinander aufgestellt.
Reacher ging ins Vorzimmer zurück, in dem schwacher Parfümduft hing. Als er hinter den Schreibtisch der Sekretärin trat, entdeckte er eine Handtasche, die offen auf der kleinen Ablage links neben dem Drehsessel stand. Die offene Klappe ließ eine Geldbörse aus weichem Leder und eine Packung Papiertaschentücher sehen. Er zog seinen Bleistift heraus und benutzte das Ende mit dem Radiergummi, um die Taschentuchpackung zur Seite zu schieben. Darunter lagen verschiedene Kosmetika, ein Schlüsselbund und ein Flakon mit einem teuren Eau de Toilette.
Über den Monitor flutete ein wässriger Bildschirmschoner. Reacher tippte die Maus mit seinem Bleistift an. Der Monitor wurde knisternd hell und zeigte ihm einen halb fertigen Geschäftsbrief. Der Cursor blinkte geduldig in der Mitte eines nicht zu Ende geschrieben Wortes. Der Brief trug das aktuelle Datum. Reacher dachte an Costello, der ermordet auf dem Gehsteig neben dem Friedhof in Key West gelegen hatte, sah von der ordentlich hingestellten Handtasche der abwesenden Frau zu der offenen Tür und dann wieder zu dem nicht zu Ende geschriebenen Wort. Ein kalter Schauder lief über seinen Rücken.
Er nahm seinen Bleistift, um die Anwendung zu schließen. Eine Dialogbox öffnete sich, um ihn zu fragen, ob er die Änderungen speichern wolle. Reacher überlegte kurz, dann tippte er NEIN an. Öffnete den Dateimanager und kontrollierte die Verzeichnisse. Er suchte eine Rechnung. Das ganze Büro zeugte davon, dass Costello auf Ordnung geachtet und mit Sicherheit einen Vorschuss in Rechnung gestellt hatte, bevor er sich auf die Suche nach Jack Reacher machte. Aber wann hatte diese Suche begonnen? Sie musste nach einem klaren Schema verlaufen sein. Angefangen hatte sie mit Mrs. Jacobs Auftrag, zu dem nur die Nennung seines Namens, ein vager Hinweis auf seine Größe und die Erwähnung seiner Militärdienstzeit erfolgt waren. Dann müsste Costello beim Personalamt der Streitkräfte angerufen haben, einem streng bewachten Komplex in St. Louis, in dem jedes Stück Papier über alle Männer und Frauen, die jemals US-Uniform getragen haben, aufbewahrt wird. Zweifach streng bewacht: physisch mit Toren und Stacheldraht, bürokratisch mit absichtlich errichteten Barrieren, die leichtfertige Anfragen verhindern sollen. Nach geduldigen Recherchen würde er Reachers ehrenhafte Entlassung entdeckt haben. Dann eine ratlose Pause, weil die Ermittlungen in eine Sackgasse geraten waren. Dann Nachforschungen nach einem Bankkonto. Ein Anruf bei einem alten Kumpel, der ihm einen Gefallen schuldete. Vielleicht ein verschwommener Faxausdruck aus Virginia oder ein detaillierter Telefonbericht über die Ein- und Auszahlungen der letzten Jahre. Dann die hastige Reise in den Süden, die Fragen entlang der Duval Street, die beiden Kerle, die Fäuste, das Teppichmesser.
St. Louis und Virginia mussten die Ermittlungen aufgehalten haben. Reacher vermutete, dass jemand wie Costello drei, vielleicht vier Tage gebraucht haben würde, um eine Auskunft vom Personalamt zu erhalten. Die Sache mit der Bank in Virginia hatte vielleicht ebenso lange gedauert. Gefälligkeiten werden nicht immer sofort erwiesen.
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