Jack Reacher 03: Sein wahres Gesicht
verließ er die Bibliothek, ging an den riesigen steinernen Löwen vorbei und betrat die nächste Telefonzelle auf dem Gehsteig. Er stellte sein Notizbuch aufs Telefon, legte alles Kleingeld, das er in seinen Taschen finden konnte, daneben und machte sich daran, ein Polizeirevier nach dem anderen anzurufen. In jedem ließ er sich mit der Registratur verbinden. Er hoffte einen im Dienst ergrauten Sergeanten an die Strippe zu bekommen, der ihm weiterhelfen konnte.
Beim vierten Anruf wurde er fündig.
»Ich suche einen gewissen Costello«, begann er. »Pensioniert und als Privatdetektiv tätig, vielleicht selbstständig, vielleicht angestellt. Ungefähr sechzig Jahre alt.«
»Yeah, und wer sind Sie?«, erkundigte sich eine Stimme. Der Tonfall war identisch. Der Mann hätte Costello sein können.
»Ich heiße Carter«, sagte Reacher. »Wie der Präsident.«
»Und was wollen Sie von Costello, Mr. Carter?«
»Ich habe etwas für ihn, aber seine Karte ist mir irgendwie abhandengekommen«, sagte Reacher. »Kann seine Nummer nicht im Telefonbuch finden.«
»Das liegt daran, dass Costello nicht drinsteht. Er arbeitet nur für Anwälte, nicht fürs breite Publikum.«
»Sie kennen ihn also?«
»Ob ich ihn kenne? Klar kenne ich ihn. Er hat in diesem Gebäude fünfzehn Jahre lang als Kriminalbeamter gearbeitet. Kein Wunder, dass ich ihn kenne.«
»Wissen Sie, wo er sein Büro hat?«
»Irgendwo drüben im Village«, erwiderte der Polizeibeamte und verstummte wieder.
Reacher hielt die Sprechmuschel zu und seufzte. Der Kerl ließ sich die Würmer einzeln aus der Nase ziehen.
»Wissen Sie, wo im Village?«
»Greenwich Avenue, wenn ich mich recht erinnere.«
»Haben Sie die Hausnummer?«
»Nein.«
»Telefonnummer?«
»Nein.«
»Kennen Sie eine Mrs. Jacob?«
»Nein, sollte ich das?«
»War bloß ’ne Frage«, meinte Reacher. »Er hat für sie gearbeitet.«
»Nie von ihr gehört.«
»Okay, danke für Ihre Hilfe«, sagte Reacher.
»Yeah«, sagte die Stimme.
Reacher hängte ein, ging wieder die Treppe hinauf und betrat den Lesesaal. Schlug nochmals im Telefonbuch für Manhattan nach, versuchte einen Costello in der Greenwich Avenue zu finden. Kein Eintrag. Er stellte das Telefonbuch ins Regal zurück, trat wieder in die Sonne hinaus und machte sich auf den Weg.
Die Greenwich Avenue ist eine lange, gerade Straße» die von der Eighth Avenue und 14th Street nach Südosten zur Sixth Avenue und 8th Street führt. Sie verläuft zwischen hübschen mehrstöckigen Gebäuden im Villagestil, deren Tiefparterre häufig für kleine Läden oder Galerien genutzt wird. Reacher suchte als Erstes die Nordseite ab, ohne fündig zu werden. Schlängelte sich am unteren Ende durch den Verkehr, ging auf der anderen Seite zurück und entdeckte auf halber Strecke ein kleines Messingschild an der Natursteineinfassung eines Hauseingangs. Auf dem Schild, einem glänzend polierten Rechteck zwischen anderen in einem Rahmen, stand nur Costello. Die schwarze Haustür stand offen. Dahinter lag ein kleines Foyer mit einer Wandtafel, in deren schwarze Filzrillen weiße Kunststoffbuchstaben gedrückt waren, die erkennen ließen, dass das Gebäude in zehn Bürosuiten aufgeteilt war. Suite fünf war mit Costello bezeichnet. Jenseits der Eingangshalle lag eine Glastür, abgesperrt. Reacher klingelte bei Suite fünf. Keine Antwort. Er klingelte Sturm, aber auch das brachte nichts. Also klingelte er bei sechs. Aus dem Lautsprecher drang eine verzerrte Stimme.
»Ja?«
»UPS«, sagte er, hörte den Türöffner der Glastür summen und stieß sie auf.
Das Haus hatte drei Etagen, eigentlich vier, wenn man das separate Tiefgeschoss mitzählte. Die Suiten eins, zwei und drei lagen im Parterre. Er stieg die Treppe hinauf und sah die Suite vier links von sich, die Nummer sechs auf der rechten Seite und die Suite fünf nach hinten hinaus. Dort lag ihr Eingang im Winkel unter der Treppe, die in den zweiten Stock hinaufführte.
Die Eingangstür hatte ein auf Hochglanz poliertes Mahagoniblatt und stand offen. Nicht ganz offen, aber weit genug, dass es sofort auffiel. Als Reacher sie mit der Schuhspitze aufstieß, schwang sie nach innen und gab den Blick in einen kleinen, dezenten Empfangsbereich von der Größe eines Motelzimmers frei. Er war in Pastelltönen zwischen Hellgrau und Hellblau gehalten. Hochfloriger Teppichboden. Ein L-förmiger Schreibtisch für die Sekretärin mit einem komplizierten Telefon und einem Computer mit Flachbildschirm. Ein
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