Jack Reacher 03: Sein wahres Gesicht
Der Zeitpunkt muss gerade günstig sein. Okay, das waren etwa sieben Tage für den bürokratischen Hindernislauf, dazwischen ein Tag zum Nachdenken, plus je ein Tag am Anfang und am Ende. Insgesamt etwa zehn Tage, seit Mrs. Jacob die ganze Sache angeleiert hatte.
Er klickte das Verzeichnis RECHNUNGEN an. Auf der rechten Bildschirmhälfte erschien eine lange Reihe alphabetisch angeordneter Namen. Er ließ den Cursor die Liste hinunterlaufen. Kein Jacob unter dem Buchstaben J. Die meisten Namen waren nur lange Akronyme, die vermutlich Anwaltsfirmen bezeichneten. Er kontrollierte die Daten. Keine Rechnung, die genau zehn Tage alt war. Aber eine, die vor neun Tagen ausgestellt worden war. Vielleicht hatte Costello schneller gearbeitet, als er vermutete - oder seine Sekretärin langsamer. Das Kürzel lautete SGR&T-09. Er klickte es an, und auf dem Bildschirm erschien eine Rechnung über einen Vorschuss von zweitausend Dollar für Nachforschungen nach einer vermissten Person, die an die Wall-Street-Firma Spencer Gutman Ricker & Talbot gegangen war. Die Adresse stand auf der Rechnung, aber natürlich ohne Telefonnummer.
Reacher kehrte zum Dateimanager zurück und rief das Verzeichnis ADRESSEN auf. Suchte dort wieder nach SGR&T und kam zu einer Seite mit derselben Anschrift, die diesmal jedoch durch Telefon- und Faxnummern und eine E-Mail-Adresse ergänzt war. Er beugte sich über die offene Handtasche der Sekretärin und zog mit spitzen Fingern zwei Papiertaschentücher aus der Packung. Wickelte das eine um den Telefonhörer, faltete das andere auseinander und legte es über die Tastatur. Tippte die Telefonnummer durch den weichen Zellstoff hindurch ein. Am anderen Ende klingelte es, dann kam die Verbindung zustande.
»Spencer Gutman«, meldete sich eine angenehme Frauenstimme. »Was kann ich für Sie tun?«
»Mrs. Jacob, bitte«, sagte Reacher knapp, als sei er in Eile.
»Augenblick, bitte«, sagte die Stimme.
Blecherne Musik, dann eine aufgeweckte, aber respektvolle Männerstimme. Vielleicht ein Assistent.
»Mrs. Jacob, bitte«, wiederholte Reacher.
Die Stimme des Mannes klang plötzlich irritiert. »Sie ist schon nach Garrison hinausgefahren, und ich weiß wirklich nicht, wann sie ins Büro zurückkommt.«
»Haben Sie ihre Adresse in Garrison?«
»Ihre?«, sagte der Mann überrascht. »Oder seine?«
Reacher hielt einen Moment inne, dachte über diese Reaktion nach und ging das Risiko ein.
»Seine, meine ich. Ich habe sie irgendwo verlegt.«
»Macht nichts«, erwiderte die Stimme. »Sie war versehentlich falsch angegeben, fürchte ich. Ich habe heute Morgen bestimmt schon fünfzig Leuten die richtige Adresse gesagt.«
Er nannte eine Adresse, die er offenbar auswendig wusste. Garrison, New York, eine kleine Stadt etwa sechzig Meilen flussaufwärts am Hudson River, ziemlich genau gegenüber von West Point, wo Reacher vier lange Jahre verbracht hatte.
»Sie müssen sich beeilen, denke ich«, sagte der Mann.
»In Ordnung«, sagte Reacher und legte verwirrt auf.
Er schloss den Dateimanager und ließ den Bildschirm leer. Warf noch einen Blick auf die zurückgelassene Handtasche der verschwundenen Sekretärin und verließ den Raum.
Die Sekretärin starb fünf Minuten, nachdem sie Mrs. Jacobs Identität preisgegeben hatte, was nur ungefähr fünf Minuten dauerte, als Hobie sich mit seinem Haken über sie hermachte. Sie befanden sich auf der Privattoilette seiner Bürosuite im siebenundachtzigsten Stock. Dieser Raum war für seine Zwecke ideal geeignet. Geräumig, fünf auf fünf Meter, viel zu groß für eine Toilette. Irgendein teurer Innenausstatter hatte Fußboden, Wände und Decke mit blank polierten Granitplatten verkleidet. In einer Ecke war eine große Dusche eingebaut, deren durchsichtiger Plastikvorhang an einer Edelstahlschiene hing. Die aus Italien importierte Schiene war für die Aufgabe, einen Plastikvorhang zu halten, lächerlich überdimensioniert. Hobie hatte entdeckt, dass sie das Gewicht eines bewusstlosen Menschen tragen konnte, der mit Handschellen an sie gefesselt war. Von Zeit zu Zeit hatten dort schwerere Leute als die Sekretärin gehangen, während er ihnen mit Fragen zusetzte oder sie davon überzeugte, dass es klüger sei, dieses oder jenes zu tun.
Das einzige Problem stellte die Schalldämpfung dar. Aber er war sich ziemlich sicher, dass sie reichte. Dies war ein solides Gebäude. Jeder der Twin Towers wog über eine halbe Million Tonnen. Reichlich Stahl und Beton, gute, massive
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