Jack Reacher 03: Sein wahres Gesicht
letzten hundert Tage seiner Kommandierung. Er hörte zu und lernte und beschaffte und sahnte ab.
Dann gelang ihm der große Durchbruch, auf den Hobie noch immer voller Stolz zurückblickte. Das Ganze war eine Reaktion auf verschiedene Probleme, mit denen er zu kämpfen hatte. Das erste Problem war der reine Arbeitsaufwand, den alles erforderte. Bestimmte Dinge auf Bestellung zu liefern war nicht so einfach. Gesunde Mädchen zu finden wurde sehr schwierig, und Jungfrauen gab es überhaupt keine mehr. Sich stetigen Nachschub an Drogen zu sichern war riskant. Andere Dinge waren zeitraubend. Schmuckwaffen, VC-Souvenirs, anständige Stiefel - alle diese Dinge waren nur mühsam zu beschaffen. Neue Offiziere, die turnusmäßig nach Vietnam versetzt wurden, torpedierten seinen Mädchenhandel in der Etappe.
Das zweite Problem war die aufkommende Konkurrenz. Hobie stellte fest, dass er nicht mehr der Einzige war. Andere Kerle drängten ins Geschäft. Allmählich bildete sich ein freier Markt heraus. Es kam vor, dass seine Deals abgelehnt wurden. Leute gingen weg und behaupteten, andere Bezugsquellen seien günstiger. Für Hobie war das ein ziemlicher Schock.
Wandel und Anpassung. Er ließ sich die Sache durch den Kopf gehen, verbrachte einen langen Abend damit, auf seinem schmalen Feldbett zu liegen und angestrengt nachzudenken. So schaffte er den Durchbruch. Wozu bestimmte Waren aufspüren, deren Beschaffung schon schwierig war und immer schwieriger werden würde? Wozu beispielsweise zu irgendeinem Vorposten hinausfahren und einen Sanitäter fragen, was er im Tausch für einen präparierten VC-Schädel wollte? Wozu dann losziehen, das verdammte Zeug beschaffen, dem Sanitäter bringen und dafür den Schädel erhalten? Wozu mit all diesem Krempel handeln? Warum nicht einfach mit der gewöhnlichsten und in ganz Südvietnam am weitesten verbreiteten Ware handeln?
Amerikanische Dollars. Hobie wurde Geldverleiher. Später, als er sich von seiner schweren Verwundung erholt und Zeit zum Lesen hatte, lächelte er wehmütig darüber. Das war eine geradezu klassische Entwicklung gewesen. Primitive Gesellschaften beginnen mit Tauschhandel und schreiten später zu einer Geldwirtschaft fort. Die amerikanische Präsenz in Vietnam hatte als primitive Gesellschaft begonnen, das stand fest. Primitiv, improvisiert, desorganisiert, einfach nur im Schlamm dieses schrecklichen Landes hockend. Im Lauf der Zeit war sie dann größer, stabiler und reifer, also erwachsen geworden, und Hobie war der Erste seiner Art, der mit ihr erwachsen wurde. Der Erste und sehr lange der Einzige seiner Art. Darauf war er mächtig stolz. Es bewies, dass er mehr konnte als die anderen. Dass er cleverer, einfallsreicher, besser imstande war, sich zu verändern, sich anzupassen und erfolgreich zu sein.
Cash war der Schlüssel zu allem. Wollte jemand Stiefel oder Heroin oder ein Mädchen, das ihm irgendein verlogenes Schlitzauge als zwölfjährige Jungfrau anpries, konnte er es sich mit Geld kaufen, das er sich von Hobie lieh. Er konnte sich seinen Wunsch heute erfüllen und nächste Woche dafür bezahlen - mit ein paar Prozent Zinsen. Hobie brauchte einfach nur dazuhocken wie eine fette, träge Spinne in ihrem Netz. Keine Lauferei. Keine Scherereien. Er dachte viel über sein neues Geschäft nach. Erkannte frühzeitig die psychologische Bedeutung von Zahlen. Kleine Zahlen wie neun klangen harmlos und freundlich. Neun Prozent wurde sein Standardzinssatz. Scheinbar eine Bagatelle. Neun, nur ein kleiner Krakel auf einem Stück Papier. Eine einstellige Zahl. Weniger als zehn. Praktisch gar nichts. So sahen es die anderen GIs. Aber neun Prozent pro Woche waren vierhundertachtundsechzig Prozent im Jahr. Ließ jemand den ersten Rückzahlungstermin verstreichen, kamen Zinseszinsen dazu. Dann wurden aus vierhundertachtundsechzig Prozent verdammt schnell tausend Prozent und mehr. Aber das merkte niemand. Niemand außer Hobie. Alle sahen nur die Zahl neun, eine einstellige Zahl, klein und freundlich.
Der erste säumige Schuldner war ein großer Kerl, primitiv, brutal, nicht sonderlich intelligent. Hobie lächelte nur. Erließ ihm die Schuld, schrieb sie ab. Schlug ihm vor, sich für diese Großzügigkeit dadurch zu revanchieren, dass er sich mit ihm zusammentat und die Rolle des Schuldeneintreibers übernahm. Danach gab es keine säumigen Schuldner mehr. Sich die wirksamste Abschreckungsmethode auszudenken war nicht leicht. Mit einem gebrochenen Arm oder Bein kam der
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