Jack Reacher 03: Sein wahres Gesicht
doch nicht verrückt, Mann!«
Dann war er fort. Er wandte sich einfach ab, ging durchs Vorzimmer und verschwand. Stone kam hinter seinem Schreibtisch hervor, blieb an der Tür stehen und sah ihm nach. In der Bürosuite war es still. Seine Sekretärin war schon gegangen. Früher als sonst. Die Verkaufsabteilung rechts war verlassen, die Werbeabteilung links ebenso. Die Fotokopierer schwiegen. Er fuhr mit dem Aufzug die beiden Stockwerke hinunter. Die Suite des Finanzdirektors war leer. Schubladen standen offen. Persönliche Dinge waren mitgenommen worden. Er ging ins große Büro. Die italienische Schreibtischlampe brannte. Der Computer war ausgeschaltet. Die Telefonhörer lagen auf der Schreibtischplatte aus Rosenholz. Er griff wahllos nach einem davon.
»Hallo?«, sagte er in den Hörer. »Hier Chester Stone.«
Das wiederholte er zweimal, dann meldete sich eine Frauenstimme, die ihn bat, am Apparat zu bleiben. Er hörte ein Klicken und Summen. Sekundenlang beruhigende Musik.
»Mr. Stone?«, fragte eine andere Stimme. »Hier ist die Insolvenzabteilung.«
Stone schloss die Augen und umklammerte den Hörer.
»Bitte bleiben Sie am Apparat, der Direktor möchte Sie sprechen.«
Dann wieder Musik.
»Mr. Stone?«, fragte eine tiefe Stimme. »Hier ist der Direktor.«
»Hallo«, sagte Stone nur. Er wusste nicht, was er sonst hätte sagen sollen.
»Wir ergreifen Maßnahmen«, erklärte die Stimme. »Sie werden unsere Position sicher verstehen.«
»Okay«, erwiderte Stone. Was für Maßnahmen?, dachte er. Schadensersatzklagen? Haftstrafen?
»Morgen früh bei Geschäftsbeginn müssten wir über den Berg sein«, sagte die Stimme.
»Über den Berg? Wie denn?«
»Wir verkaufen unsere Forderungen natürlich.«
»Verkaufen?«, wiederholte Stone leise. »Das verstehe ich nicht.«
»Wir wollen sie nicht mehr«, sagte die Stimme. »Dafür haben Sie sicher Verständnis. Dieses Engagement hat sich in eine Richtung entwickelt, die nicht mehr mit unseren Geschäftsprinzipien vereinbar ist. Deshalb verkaufen wir unsere Forderungen. Das ist ganz normal, nicht wahr? Leute, die etwas besitzen, das sie nicht mehr haben wollen, verkaufen es meistbietend.«
»An wen verkaufen Sie Ihre Forderungen?«, fragte Stone beklommen.
»An eine Treuhandgesellschaft auf den Cayman Islands. Sie hat uns ein Angebot gemacht.«
»Was bedeutet das für unsere Geschäftsbeziehungen?«
»Unsere Geschäftsbeziehungen?«, wiederholte die Stimme verständnislos. »Die sind ab sofort beendet. Sie haben uns gegenüber keine Verpflichtungen mehr. Es gibt auch keine Geschäftsbeziehungen mehr. Ich kann Ihnen nur raten, nicht zu versuchen, sie wieder zu beleben. Damit würden Sie alles nur noch schlimmer machen.«
»Wer ist also jetzt mein Gläubiger?«
»Die Treuhandgesellschaft auf den Cayman Islands«, sagte die Stimme geduldig. »Ich denke, dass die Leute, die hinter ihr stehen, sich sehr bald mit einem Tilgungsvorschlag bei Ihnen melden werden.«
Jodie fuhr wieder. Reacher stieg aus, ging um die Motorhaube herum und stieg rechts ein. Sie rutschte über die Mittelkonsole und ließ ihren Sitz nach vorn gleiten. Fuhr an den im Glanz der Sonne liegenden Stauseen bei Croton vorbei nach Süden in Richtung White Plains. Reacher sah sich immer wieder um, suchte die Straße hinter ihnen ab. Keine Verfolger. Nichts Verdächtiges. Nur ein sonniger, zum Faulenzen einladender Juninachmittag auf dem Land. Er musste die Brandblase unter seinem Hemd berühren, um sich daran zu erinnern, dass überhaupt etwas passiert war.
In White Plains steuerte sie auf ein großes Einkaufszentrum zu: ein Riesengebäude von der Größe eines Stadiums, kaum niedriger als die Hochhäuser, die es umgaben, im Schnittpunkt mehrerer belebter Straßen. Sie wechselte mehrmals die Spur und folgte dann einer weit geschwungenen Abfahrt in die Tiefgarage hinunter. Dort herrschte trübes Halbdunkel, aber in der Ferne war ein Eingang aus Messing und Glas zu erkennen, der direkt in eine Ladenpassage führte und strahlend hell erleuchtet war. Jodie fand knapp fünfzig Meter davon entfernt eine Parklücke. Sie stellte den Wagen ab, stieg aus, ging zum Parkautomaten und kam mit einem kleinen Schein zurück, den sie so aufs Instrumentenbrett legte, dass die Parkzeit durch die Windschutzscheibe zu lesen war.
»Okay«, sagte sie. »Womit fangen wir an?«
Reacher zuckte mit den Schultern. In den vergangenen zwei Jahren hatte er jede Menge Kleidung gekauft, weil er sich angewöhnt hatte, sich
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