Jack Reacher 03: Sein wahres Gesicht
Ziegelfarbe behalten, aber alles andere außer dem Fußboden aus hellen Marmorstreifen war weiß. Der Raum wirkte kühl und neutral wie eine Galerie. Nichts ließ darauf schließen, dass hier jemals mehr als ein Mensch gelebt hatte. Nirgends Anzeichen für unterschiedliche Geschmacksrichtungen. Alles sehr einheitlich durchgestylt. Weiße Sofas, weiße Sessel, weiß lackierte Bücherregale. Dicke Heizungsrohre und hässliche Radiatoren, ebenfalls weiß gestrichen.
Der einzige farbige Akzent im Wohnzimmer war die Kopie eines Gemäldes von Mondrian, die an der Wand über dem größten Sofa hing. Eine ausgezeichnete Kopie, von Hand mit Ölfarben auf Leinwand gemalt und in den richtigen Farbtönen gehalten. Keine grellen Rot-, Gelb- und Blautöne, sondern die gedämpften Farben des Originals mit authentischen Haarrissen und kleinen Sprüngen in dem Weiß, das fast ein helles Grau war. Er blieb lange davor stehen und starrte es bewundernd an. Piet Mondrian war sein absoluter Favorit unter den Malern und genau dieses Gemälde sein Lieblingsbild. Es trug den Titel Komposition mit Rot, Gelb und Blau. Mondrian hatte es 1930 gemalt, und Reacher hatte es in Zürich ausgestellt gesehen.
Gegenüber dem kleinsten Sofa stand ein hohes Wandregal - ebenfalls weiß lackiert. Es enthielt einen kleinen Fernseher, einen Videorekorder, eine Kabelbox und eine Stereoanlage mit CD-Player und Kopfhörer. Daneben ein kleiner Stapel CDs, hauptsächlich Jazz aus den fünfziger Jahren - Musik, die Reacher mochte.
Die Wohnzimmerfenster führten auf den Lower Broadway hinaus. Von unten drangen das stetige Rauschen des Großstadtverkehrs, der grelle Lichtschein der Neonreklamen und manchmal das an- und abschwellende Heulen einer Sirene herauf. Er öffnete die Lamellen der Jalousie mit dem Plexiglasstab und sah auf den Gehsteig hinunter. Noch immer dieselben Leute, die in kleinen Gruppen beisammenstanden. Nichts, was ihn hätte nervös machen können. Er drehte den Stab in Gegenrichtung, um die Jalousie wieder zu schließen.
Die Küche war riesig und ebenso hoch wie die anderen Räume. Alle Möbel bestanden aus weiß lackiertem Holz, und die Haushaltsgeräte waren aus Edelstahl. Reacher hatte den Eindruck, in Löchern gehaust zu haben, die kleiner gewesen waren als Jodies Kühlschrank. Als er dessen Tür aufzog, entdeckte er ein Dutzend Flaschen des Mineralwassers, an dem er auf den Keys Geschmack gefunden hatte. Er öffnete eine Flasche und nahm sie mit ins Gästezimmer.
Auch das Gästezimmer war ganz in Weiß gehalten. Die Holzmöbel schienen ursprünglich eine andere Farbe gehabt zu haben, aber jetzt waren sie ebenso weiß wie die Wände. Reacher stellte die Mineralwasserflasche auf den Nachttisch und ging ins Bad. Weiße Fliesen, weißes Waschbecken, weiße Badewanne, weißes Duschbecken, überall altes Email und weiße Kacheln. Zurück im Zimmer, schloss er die Jalousie, zog sich aus und hängte seine neuen Sachen an die Kleiderhaken an der Tür. Schlug die Decke zurück, kroch ins Bett und geriet ins Grübeln.
Illusion und Wirklichkeit. Was machten neun Jahre schon aus? Vermutlich viel, als sie fünfzehn und er vierundzwanzig gewesen war - aber jetzt? Er war achtunddreißig und sie neunundzwanzig oder dreißig, das wusste er nicht genau. Wo lag also das Problem? Warum unternahm er nicht etwas? Vielleicht lag es nicht am Altersunterschied, sondern daran, dass sie Leons Tochter war, dass er sie immer so sehen würde - eine Mischung aus kleiner Schwester und Nichte. Dieses Gefühl war offenbar sehr hemmend, aber warum? Sie war doch nur die Verwandte eines alten, jetzt toten Freundes. Warum hatte er ein so schlechtes Gewissen, wenn er sie ansah und sich vorstellte, wie er ihr das Sweatshirt auszog und den Gürtel ihrer Jeans löste? Warum tat er’s nicht einfach? Was zum Teufel machte er im Gästezimmer, statt auf der anderen Seite der Wand mit ihr im Bett zu liegen? Wie er sich’s in der Vergangenheit in vielen schlaflosen Nächten immer ausgemalt hatte?
Weil ihre Vorstellung von ihm wahrscheinlich ähnlich war. Man brauchte nur kleine Schwester und Nichte durch großer Bruder und Onkel zu ersetzen. Lieblingsonkel, das stand fest, denn er wusste, dass sie ihn mochte. Ihre Zuneigung war nicht zu übersehen. Aber das machte alles nur noch schlimmer. Lieblingsonkel hatten eine spezifische Funktion. Sie waren dazu da, mit ihren Nichten einkaufen zu gehen und sie zu verwöhnen. Sie waren nicht dazu da, einem Avancen zu machen. Dieser
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