Jack Reacher 03: Sein wahres Gesicht
Buchstaben zu hoch oder zu tief, manche mit falschen Zwischenräumen, manche mit roten Rändern, wo sie ins Zweifarbenband hinaufgerutscht waren. Dann folgten die mit elektrischer Schreibmaschine geschriebenen, die sauberer und gleichmäßiger aussahen. Und zuletzt kamen Computerbriefe, die makellos auf besserem Papier ausgedruckt waren. Aber die Inhalte waren stets gleich. Keine Informationen. Vermisst, wahrscheinlich gefallen. Beileidsfloskeln.
Die Vereinbarung mit dem Kerl namens Rutter hatte die alten Leute völlig mittellos gemacht. Davor hatten sie einige Investmentzertifikate und ein kleines Sparguthaben besessen. In der Mappe lag eine mit zittriger Hand - vermutlich von Mrs. Hobie - verfasste Aufstellung ihrer monatlichen Ausgaben, die immer mehr zusammengestrichen worden waren, bis sie den Schecks von der Sozialversicherung entsprachen. Die Investmentzertifikate waren vor anderthalb Jahren verkauft und mit dem Sparguthaben zusammengelegt worden; dann hatten sie ihr gesamtes Geld nach New York geschickt. Rutter hatte den Empfang quittiert und mit den Kosten einer Erkundungsreise verrechnet, die sofort angetreten werden sollte. Zugleich hatte er alle Informationen angefordert, die nützlich sein könnten - wie Dienstgrad, Stammnummer, letzte Einheit, letzter Einsatzort und sämtliche existierenden Fotos. Knapp ein Vierteljahr später hatte er in einem langen Brief von der Entdeckung des Geheimlagers, den riskanten heimlichen Fotos und dem flüsternd geführten Gespräch durch den Stacheldraht berichtet. Als Anlage hatte er einen sehr detaillierten Plan für ein Rettungsunternehmen beigefügt, das die Hobies wahrscheinlich fünfundvierzigtausend Dollar kosten würde. Fünfundvierzigtausend Dollar, die sie nicht besaßen.
»Helfen Sie uns also?«, fragte die alte Dame ins Schweigen hinein. »Ist Ihnen alles klar? Müssen Sie sonst noch etwas wissen?«
Er sah sie an, klappte die Ledermappe zu, starrte auf das abgewetzte Leder. Im Augenblick interessierte ihn nur eine Frage: Warum, zum Teufel, hatte Leon diesen Leuten nicht die Wahrheit gesagt?
9
Marilyn Stone ließ das Mittagessen ausfallen, weil sie keine Zeit dafür hatte, aber das machte ihr nichts aus, weil sie sehr zufrieden damit war, wie das Haus auszusehen begann. Sie stellte fest, dass sie die ganze Sache ziemlich leidenschaftslos sah, was sie ein bisschen überraschte, denn schließlich war dies ihr Heim, das sie verkaufen wollte - ihr eigenes Haus, das sie vor nicht allzu vielen Jahren sorgfältig und überlegt ausgesucht hatte. Dies war ihr Traumhaus gewesen. Viel größer und luxuriöser, als sie sich jemals hatte träumen lassen. Beim Einzug war es für sie gewesen, als sei sie gestorben und in den Himmel gekommen. Jetzt betrachtete sie das Haus nur als Objekt, das einen möglichst guten Preis erzielen sollte. Sie sah keine Räume, die sie eingerichtet, in denen sie gewohnt und sich wohl gefühlt hatte. Keine bedauernden Blicke für Bereiche, in denen Chester und sie glücklich gewesen waren, in denen sie gelacht, gegessen und geschlafen hatten. Da war nur eine energische Entschlossenheit, alles so zu perfektionieren, dass das Haus für einen potentiellen Käufer unwiderstehlich wurde.
Die Möbelpacker waren wie geplant als Erste gekommen. Marilyn ließ sie die Anrichte aus der Diele abtransportieren, dann folgte Chesters Lehnsessel aus dem Wohnzimmer. Nicht etwa, weil der Sessel schäbig war, sondern weil er dem Raum eine besondere Note verlieh. Dies war sein Lieblingsstuhl, den er ausgesucht hatte, wie Männer eben Möbel aussuchen: nach Bequemlichkeit, nicht unbedingt nach Eleganz und Kombinierbarkeit. Er war das einzige Möbelstück aus ihrem früheren Haus, und Chester hatte ihn leicht schräg zum Kamin aufgestellt. Er gefiel Marilyn, weil er dem Raum eine behagliche Atmosphäre verlieh. Und genau aus diesem Grund musste er weg.
Sie ließ die Möbelpacker auch den als Arbeitstisch dienenden massiven Hackklotz aus der Küche mitnehmen. Über diesen Tisch hatte sie lange nachgedacht. Natürlich verlieh er der Küche die nüchterne Atmosphäre eines Arbeitsraums, in dem Mahlzeiten geplant und zubereitet wurden. Aber ohne ihn erstreckte sich der geflieste Küchenboden über zehn Meter weit bis zum Erkerfenster. Marilyn wusste, dass das durchs Fenster einfallende Licht sich auf den frisch geputzten Fliesen spiegeln und den Raum noch größer erscheinen lassen würde. Sie war in die Rolle eines möglichen Interessenten geschlüpft und hatte
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