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Jack Reacher 09: Sniper

Jack Reacher 09: Sniper

Titel: Jack Reacher 09: Sniper Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Child
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Deckenbeleuchtung war ausgeschaltet, und sein Gesicht wurde vom Widerschein des Computermonitors erhellt. Er starrte den Bildschirm ausdruckslos an, als sagte er ihm nichts. Reacher berichtete von Rosemary Barrs Entführung. Franklin schüttelte den Kopf und schaute verdutzt erst zur Tür und dann zum Fenster.
    »Dabei waren wir hier«, sagte er.
    Reacher nickte. »Sogar zu dritt. Sie, ich und Helen.«
    »Aber ich habe nichts gehört.«
    »Ich auch nicht«, sagte Reacher. »Die sind echt gut.«
    »Was haben sie mit ihr vor?«
    »Sie wollen sie dazu bringen, gegen ihren Bruder auszusagen. Irgendeine erfundene Story.«
    »Werden sie ihr wehtun?«
    »Das hängt davon ab, wie schnell sie einknickt.«
    »Sie knickt nicht ein«, sagte Yanni. »Niemals! Ist Ihnen das nicht klar? Sie ist völlig darauf fixiert, die Unschuld ihres Bruders zu beweisen.«
    »Dann werden sie ihr wehtun.«
    »Wo könnte sie sein?«, fragte Franklin. »Was denken Sie?«
    »Wo immer sie sind«, antwortete Reacher. »Aber ich weiß nicht, wo das ist.«
     
    Sie war im Wohnzimmer im ersten Stock mit Klebeband an einen Stuhl gefesselt. Der Zec starrte sie an. Frauen faszinierten ihn. Einmal hatte er siebenundzwanzig Jahre lang keine zu Gesicht bekommen. In dem Strafbataillon, in das er 1943 versetzt wurde, gab es ein paar, aber sie waren eine verschwindend kleine Minderheit und starben rasch. Und nachdem der Große Vaterländische Krieg gewonnen war, hatte seine albtraumhafte Reise durch den Gulag begonnen. 1949 hatte er am Weißmeerkanal eine Bäuerin gesehen: ein gebückt gehendes, ausgemergeltes altes Weib etwa hundert Meter entfernt in einem Rübenfeld. Danach nichts mehr, bis er 1976 eine Krankenschwester getroffen hatte, die auf einem Schlitten mit Dreigespann durch die sibirische Eiswüste fuhr. Damals war er Steinbrucharbeiter gewesen. Er war mit hundert weiteren Zecs aus dem Steinbruch gekommen und in einer endlos langen Kolonne auf einer geraden Straße auf dem Rückmarsch ins Lager gewesen. Der Schlitten der Krankenschwester näherte sich ihnen auf einer Straße, welche die ihre senkrecht kreuzte. Das Land war flach, baumlos und tief verschneit. Die Zecs standen da und sahen sie aus einem Kilometer Entfernung herankommen. Dann drehten sie wie ein Mann die Köpfe, als sie über die Kreuzung fuhr, und starrten ihr abermals einen Kilometer weit nach. An diesem Abend wurde ihnen als Strafe für den ungenehmigten Halt das Essen gestrichen. Vier Mann starben, aber der Zec überlebte.
    »Haben Sie’s bequem?«, fragte er.
    Rosemary Barr gab keine Antwort. Der Mann namens Tschenko hatte ihren Schuh zurückgebracht. Er war vor ihr in die Hocke gegangen und hatte ihn ihr wie ein Schuhverkäufer wieder über den Fuß gestülpt. Dann hatte er neben dem Mann namens Wladimir auf dem Sofa Platz genommen. Der andere namens Sokolow war unten in einem Raum voller Überwachungsgeräte geblieben. Und der namens Linsky ging bleich vor Schmerzen im Zimmer auf und ab. Mit seinem Rücken stimmte etwas nicht.
    »Wenn der Zec spricht, sollten Sie antworten«, sagte der eine namens Wladimir.
    Rosemary sah weg. Wladimir machte ihr Angst. Mehr als die anderen. Der hünenhafte Mann hatte etwas Verderbtes an sich, das man fast riechen konnte.
    »Versteht sie ihre Position?«, fragte Linsky. Der Zec lächelte, und Linsky erwiderte sein Lächeln. Dies war ein privater Scherz zwischen ihnen. In den Lagern war jeder Versuch, vermeintliche Rechte oder humane Behandlung einzufordern, stets mit einer Frage beantwortet worden: Verstehst du deine Position? Auf diese Frage war dann eine Feststellung gefolgt: Du hast keine Position. Du bedeutest dem Vaterland nichts. Als Linsky diese Frage zum ersten Mal gehört hatte, wollte er sie beantworten, aber der Zec zog ihn mit sich fort. Damals hatte der Zec achtzehn Jahre im Lager hinter sich, und seine Einmischung war ganz untypisch. Aber er hatte offenbar etwas für den unerfahrenen Jungen übrig, hatte ihn unter seine Fittiche genommen. Sie waren seit damals zusammen, waren gemeinsam an mehr Orten gewesen, als sie noch hätten angeben können. Über den Archipel Gulag waren viele Bücher mit neu entdeckten Dokumenten und Karten veröffentlicht worden, aber eine Ironie des Schicksals wollte es, dass die ehemaligen Lagerinsassen nicht wussten, wo sie gewesen waren. Das hatte ihnen niemand gesagt. Ein Lager war ein Lager – mit Stacheldraht, Baracken, endlosem Wald, endloser Tundra, endloser Arbeit. Welchen Unterschied hätte ein Name

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