Jack Reacher 09: Sniper
gespannt nach vorn, als könnte er damit den Vorgang beschleunigen.
»Letzte Chance«, meinte er.
Aus der Fernsehwerbung wusste Reacher, dass Computer mit mehreren Gigahertz arbeiteten, was bestimmt ziemlich schnell war. Trotzdem blieb Franklins Bildschirm lange leer. In der rechten unteren Ecke rotierte langsam ein kleines Symbol, das Zeichen für eine gründliche Durchforstung riesiger Datenmengen. Es drehte sich minutenlang. Dann stoppte es. Knisternd wurde der Bildschirm erst schwarz und zeigte dann ein eng bedrucktes Dokument. In einfacher Computerschrift, die Reacher von seinem Platz aus nicht lesen konnte.
Gespanntes Schweigen.
Franklin sah auf.
»Okay«, sagte er. »Endlich mal was, das aus der Reihe fällt. Endlich meint’s das Schicksal mal gut mit uns.«
»Was haben Sie gefunden?«, fragte Yanni.
»Oline Archer hat ihren Ehemann vor zwei Monaten als vermisst gemeldet.«
15
Franklin schob seinen Stuhl zurück, um Platz zu machen, und die anderen drängten sich gemeinsam um den Bildschirm. Reacher und Helen Rodin standen dabei Schulter an Schulter. Alle Feindseligkeit war vergessen. Nur noch einsetzendes Jagdfieber.
Der größte Teil des Dokuments bestand aus verschlüsselten Adressen und Übermittlungsdaten. Buchstaben, Zahlen, Zeiten, Quellen. Die eigentliche Meldung war nur kurz. Vor ziemlich genau zwei Monaten hatte Mrs. Oline Anne Archer ihren Ehemann Edward Stratton Archer als vermisst gemeldet. Er hatte ihr Haus am Montagmorgen wie gewöhnlich verlassen, um ins Büro zu fahren, und war bis Mittwochabend bei Geschäftsschluss – dem Zeitpunkt der Vermisstenmeldung – nicht zurückgekehrt.
»Ist er noch immer verschwunden?«, fragte Helen.
»Ja«, bestätigte Franklin. Er deutete auf den Buchstaben A in der Absendererkennung. »Die Suchmeldung ist weiter aktiv.«
»Dann sollten wir mit Olines Freundinnen reden«, meinte Reacher. »Wir brauchen ein paar Hintergrundinformationen.«
»Jetzt?«, fragte Franklin.
»Uns bleiben nur zwölf Stunden«, erwiderte Reacher. »Wir dürfen keine Zeit verschwenden.«
Franklin notierte die Namen und Adressen von Oline Archers Arbeitskollegin und Nachbarin. Den Zettel gab er Ann Yanni, weil sie seine Auftraggeberin war.
»Ich bleibe hier«, erklärte er. »Ich will nachsehen, ob der Ehemann irgendwo in den Datenbanken auftaucht. Diese Sache könnte ein Zufall sein. Vielleicht hat er in jedem Bundesstaat eine Ehefrau. Wäre nicht der erste Fall.«
»Ich glaube nicht an Zufälle«, sagte Reacher. »Vergeuden Sie also nicht Ihre Zeit. Suchen Sie lieber eine Telefonnummer für mich heraus. Der Mann heißt Cash. Ein ehemaliger Marineinfanterist. Ihm gehört der Schießplatz, auf dem James Barr manchmal geübt hat. Drunten in Kentucky. Rufen Sie ihn für mich an.«
»Nachricht?«
»Sagen Sie ihm meinen Namen. Sagen Sie ihm, er soll seinen Arsch in Bewegung setzen und noch heute herkommen. Sagen Sie ihm, dass hier ein neues Einladungsturnier läuft.«
»Einladungsturnier?«
»Er weiß, was gemeint ist. Richten Sie ihm aus, dass er sein M24 mitbringen soll. Mit einem Nachtsichtgerät. Und was er sonst noch an Hardware herumliegen hat.«
Reacher folgte Ann Yanni und Helen Rodin die Außentreppe hinunter. Sie stiegen in Helens Saturn, die Frauen vorn, Reacher hinten. Reacher vermutete, dass sie alle lieber mit dem Mustang gefahren wären, aber der war nur ein Zweisitzer.
»Wohin zuerst?«, fragte Helen.
»Welche wohnt näher?«, lautete Reachers Gegenfrage.
»Die Arbeitskollegin.«
»Okay, erst zu ihr.«
Der Verkehr stockte. Wegen aufgerissener Straßen waren überall Muldenkipper und Baustellenfahrzeuge unterwegs. Reacher blickte erst auf seine Uhr, dann aus dem Fenster. Die Abenddämmerung sank herab. Die Zeit verrinnt .
Oline Archers Kollegin wohnte in einem für das Kernland Amerikas typischen schlichten Vorort östlich der Stadt. Er bestand aus einem Raster schnurgerader Wohnstraßen, die auf beiden Seiten von bescheidenen Ranchhäusern gesäumt waren. Die Häuser standen auf kleinen Grundstücken und hatten Fahnen an Masten, Basketballkörbe über den Garagentoren und Satellitenschüsseln an Klinkerkaminen. Um einige Bäume auf den Gehsteigen waren verblasste gelbe Schleifen gebunden. Reacher vermutete, sie symbolisierten Solidarität mit in Übersee eingesetzten Soldaten. In welchem Konflikt wusste er nicht genau. Mit welchem Ziel wusste er erst recht nicht. Er war in seinen dreizehn Dienstjahren meist in Übersee stationiert
Weitere Kostenlose Bücher