Jack Reacher 09: Sniper
Barrs Bruder ist schuldig, das steht außer Zweifel. Rodins Beweisführung wird wie aus dem Lehrbuch klingen. Teufel, vermutlich wird sie eines Tages ein Lehrbuch. Er hat alle nur denkbaren Beweise in der Hand. Ich sehe nirgends die geringste Lücke.«
»Hat er dir reinen Wein eingeschenkt?«, fragte der geschäftsführende Partner.
»Alte Kumpel erzählen sich keinen Scheiß«, antwortete Chapman.
»Also?«
»Wir bräuchten nur auf mildernde Umstände zu plädieren. Schaffen wir’s, die Giftspritze in lebenslänglich ohne Aussicht auf spätere Entlassung umzuwandeln, wäre schon viel gewonnen. Das ist alles, was Ms. Barr fairerweise erwarten kann. Oder, bei allem Respekt, ihr verdammter Bruder.«
»Wie sehr wären wir beteiligt?«, fragte der geschäftsführende Partner.
»Nur in der Urteilsphase. Weil er sich schuldig bekennen müsste.«
»Wärst du bereit, den Fall zu übernehmen?«
»Unter den Umständen, ja.«
»Wie viele Stunden kostet uns das?«
»Nicht allzu viele. Wir können praktisch nichts tun.«
»Wofür könnte er mildernde Umstände bekommen?«
»Er ist ein Golfkriegsveteran, glaube ich. Also kann er unter irgendwelchen chemischen Schweinereien leiden. Oder an einer verzögerten posttraumatischen Reaktion. Vielleicht ist Rodin im Voraus zu einer Absprache bereit. Das ließe sich beim Lunch regeln.«
Der geschäftsführende Partner nickte. Wandte sich an den Steueranwalt. »Du kannst deiner Sekretärin sagen, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun werden, um ihrem Bruder in seiner Notlage zu helfen.«
James Barr wurde aus der Arrestzelle der Polizeistation ins Bezirksgefängnis verlegt, bevor seine Schwester oder Chapman Gelegenheit hatten, ihn zu besuchen. Wolldecke und Schlafanzug wurden ihm weggenommen; stattdessen bekam er Unterwäsche aus Papier, eine orangerote Kombi und FlipFlops aus Gummi. Das County Jail war kein angenehmer Aufenthaltsort. Es roch schlecht und war unerträglich laut. Es war schrecklich überfüllt, und die sozialen und ethnischen Spannungen, die auf der Straße halbwegs eingedämmt blieben, wüteten hier ungebremst. Männer waren zu dritt in Einzelzellen zusammengepfercht, und das Wachpersonal war chronisch unterbesetzt. Neu Eingelieferte, die als »Fische« bezeichnet wurden, mussten selbst sehen, wie sie zurechtkamen.
Barr hatte jedoch in der Army gedient, daher war der Kulturschock in seinem Fall etwas geringer, als er hätte sein können. Nachdem er zwei Stunden lang als Fisch überlebt hatte, wurde er in einen Vernehmungsraum geführt. Ein Anwalt wolle ihn sprechen – mehr erfuhr er nicht. In dem fensterlosen winzigen Raum fand er einen Tisch und zwei am Fußboden festgeschraubte Stühle vor. Auf einem dieser Stühle saß ein Kerl, der ihm von irgendwoher vage bekannt vorkam. Auf dem Tisch stand ein Diktiergerät, das wie ein Walkman aussah.
»Ich heiße David Chapman«, stellte sich der Kerl auf dem Stuhl vor. »Ich bin Strafverteidiger. Rechtsanwalt. Ihre Schwester arbeitet in meiner Firma. Sie hat uns gebeten, Ihnen zu helfen.«
Barr sagte nichts.
»Deswegen bin ich hier«, sagte Chapman.
Barr sagte nichts.
»Ich nehme dieses Gespräch auf«, fuhr Chapman fort. »Auf Tonband. Ich nehme an, Sie haben nichts dagegen?«
Barr sagte nichts.
»Ich denke, wir sind uns schon mal begegnet«, sagte Chapman. »Auf unserer vorletzten Weihnachtsfeier?«
Barr sagte nichts.
Chapman wartete.
»Ist Ihnen erklärt worden, was Ihnen vorgeworfen wird?«, fragte er dann.
Barr sagte nichts.
»Die Anklage ist sehr schwerwiegend«, sagte Chapman.
Barr schwieg weiter.
»Ich kann Ihnen nicht helfen, wenn Sie sich nicht selbst helfen«, meinte Chapman.
Barr starrte ihn nur an. Saß einfach mehrere Minuten lang still und stumm da. Dann beugte er sich leicht nach vorn, um dem Diktiergerät näher zu sein, und sprach erstmals seit dem Nachmittag des Vortags.
Er sagte: »Sie haben den Falschen.«
»Sie haben den Falschen«, wiederholte Barr.
»Gut, dann erzählen Sie mir von dem richtigen Kerl«, sagte Chapman sofort. Er war ein gewiefter juristischer Taktiker. Er verstand sich darauf, einen Rhythmus in Gang zu setzen. Frage, Antwort, Frage, Antwort. So brachte man Menschen dazu, aus sich herauszugehen. Sie verfielen in diesen Rhythmus, und alles kam ans Tageslicht.
Barr verfiel jedoch wieder in Schweigen.
»Reden wir ganz offen darüber«, schlug Chapman vor.
Barr gab keine Antwort.
»Leugnen Sie die Tat?«, fragte Chapman ihn.
Barr sagte
Weitere Kostenlose Bücher