Jack Reacher 09: Sniper
die Rodin mit Politikern zeigten. Reacher zählte sieben eingerahmte Schlagzeilen, die Schuldsprüche in Aufsehen erregenden Prozessen meldeten. An einer anderen Wand hing ein großes Foto, das eine junge Frau mit quadratischem Barett und einem gerollten Diplom in der Hand zeigte. Sie war hübsch. Reacher betrachtete sie einen Augenblick länger als nötig.
»Das ist meine Tochter«, erklärte Rodin. »Sie ist Rechtsanwältin.«
»Tatsächlich?«, sagte Reacher.
»Sie hat vor Kurzem hier in der Stadt ihre eigene Kanzlei aufgemacht.«
Sein Tonfall war nichtssagend. Reacher konnte nicht beurteilen, ob er stolz auf seine Tochter war oder ihren Entschluss missbilligte.
»Sie werden sie noch kennenlernen, denke ich«, sagte Rodin.
»Wirklich?«, fragte Reacher. »Warum?«
»Sie verteidigt James Barr.«
»Ihre Tochter? Ist das ethisch einwandfrei?«
»Jedenfalls ist es nicht verboten. Es mag unklug sein, aber es ist nicht unethisch.«
Er betonte das Wort unklug auf eine Weise, die alle möglichen Deutungen zuließ. Unklug, in einem berüchtigten Fall die Verteidigung zu übernehmen; unklug, es als Tochter mit dem eigenen Vater aufzunehmen; unklug für jedermann , sich mit A.A. Rodin anzulegen. Das klang, als wäre er jemand, der keine Konkurrenz scheute.
»Sie hat Ihren Namen auf ihre vorläufige Zeugenliste gesetzt«, sagte er.
»Wieso?«
»Sie glaubt, dass Sie Informationen besitzen.«
»Wo hat sie meinen Namen her?«
»Keine Ahnung.«
»Aus dem Pentagon?«
Rodin zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht. Aber sie hat ihn irgendwoher. Seitdem sind alle möglichen Leute auf der Suche nach Ihnen.«
»Bin ich deshalb zu Ihnen vorgelassen worden?«
Rodin nickte.
»Ja«, antwortete er. »Aus genau diesem Grund. Im Allgemeinen empfange ich keine Leute, die einfach hereinspaziert kommen.«
»Ihr Personal scheint das strikt zu befolgen.«
»Das will ich hoffen!«, sagte Rodin. »Bitte nehmen Sie Platz.«
Reacher ließ sich auf dem Besuchersessel nieder, und Rodin setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch. Das Fenster befand sich links von Reacher und rechts von Rodin. So fiel keinem von ihnen das Licht in die Augen. Eine faire Sitzordnung, die niemanden benachteiligte. Ganz anders als in manchen Büros von Staatsanwälten, in denen Reacher schon gewesen war.
»Kaffee?«, fragte Rodin.
»Bitte«, sagte Reacher.
Rodin nahm den Telefonhörer ab und bestellte Kaffee.
»Natürlich interessiert mich, weshalb Sie erst zu mir gekommen sind«, sagte er. »Zur Staatsanwaltschaft, meine ich, statt zur Barrs Verteidigerin.«
»Mich interessiert Ihre persönliche Meinung«, erklärte Reacher.
»Worüber?«
»Wie zwingend Ihre Beweise gegen James Barr sind.«
Rodin antwortete nicht gleich. Nach einer kurzen Pause wurde angeklopft, und die Sekretärin kam mit dem Kaffee herein. Sie trug ein Silbertablett mit einem luxuriösen Service: Thermoskanne, zwei Tassen auf Untertassen, Zuckerschale, Sahnekännchen und zwei Silberlöffel. Die Tassen waren aus feinem Wedgewood-Porzellan. Kein gewöhnliches Bürogeschirr, dachte Reacher. Rodin trinkt seinen Kaffee gern stilvoll. Die Sekretärin stellte das Tablett so an die Schreibtischkante, dass es genau in der Mitte zwischen ihrem Chef und dem Besucher stand.
»Danke«, sagte Reacher.
»Oh, bitte sehr«, erwiderte sie und verließ den Raum.
»Bedienen Sie sich«, sagte Rodin. »Bitte.«
Reacher drückte den Pumpknopf der Thermoskanne und goss sich eine Tasse ein, ohne Sahne oder Zucker zu nehmen. Der duftende schwarze Kaffee war ziemlich stark. Eben richtiger Kaffee.
»Die Beweislage im Fall Barr ist außerordentlich gut«, sagte Rodin.
»Augenzeugen?«, fragte Reacher.
»Nein«, entgegnete Rodin. »Aber die Aussagen von Augenzeugen sind oft von zweifelhaftem Wert. Ich bin fast froh darüber, dass es keine Augenzeugen gibt, denn stattdessen haben wir außergewöhnlich gute physische Beweise. Und die Wissenschaft lügt nicht. Sie lässt sich auch nicht beirren.«
»Außergewöhnlich?«, sagte Reacher.
»Eine vollständige, sehr solide Beweiskette, die den Mann mit dem Verbrechen verbindet.«
»Wie solide?«
»So solide wie überhaupt möglich. Die besten Beweise, die ich je gesehen habe. Ich bin äußerst zuversichtlich.«
»Das habe ich schon andere Staatsanwälte sagen gehört.«
»Bei mir liegt der Fall anders, Mr. Reacher. Ich bin ein sehr vorsichtiger Mann. Ich erhebe nur Anklage wegen eines Schwerverbrechens, wenn ich mir meiner Sache absolut
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