Jack Reacher 09: Sniper
Dann würde er sich billig neue Klamotten kaufen. An den Füßen hatte er braune Mokassins. Ohne Socken. Er war für den Boardwalk angezogen und wirkte hier in der Stadt vermutlich ein bisschen fremdartig.
Er schaute auf seine Uhr. Zwanzig nach neun. Er stand im Dieselqualm auf dem Gehsteig, reckte sich gemächlich und sah sich um. Diese Stadt gehörte zu den Städten im Herzen Amerikas, die weder groß noch klein, weder neu noch alt waren. Sie boomte nicht, aber sie verfiel auch nicht. Wahrscheinlich existierte eine gewisse Lokalgeschichte. Vermutlich etwas Handel mit Mais und Sojabohnen. Vielleicht auch mit Tabak. Möglicherweise mit Vieh. Wahrscheinlich gab es hier einen Fluss oder die Endstation einer Bahnlinie. Vielleicht etwas Industrie. Er entdeckte einen kleinen Geschäftsbezirk, östlich von ihm gelegen. Höhere Gebäude, manche aus Naturstein, andere aus Klinker, einige Plakattafeln. Der schwarze Glasturm musste das Flaggschiff dieses Areals sein. Es wäre sinnlos gewesen, ihn anderswo zu errichten als im Herzen der Innenstadt.
Reacher ging darauf zu. Überall wurde gebuddelt und gebaut. Ausbesserungen, Umbauten, Löcher in der Straße, Kieshaufen, frischer Beton, langsam dahinkriechende Muldenkipper. Er überquerte die Fahrbahn vor einem, folgte einer Seitenstraße und kam auf der Nordseite einer halb fertigen Parkhauserweiterung heraus. Er erinnerte sich an Ann Yannis atemlose Zusammenfassung der Ereignisse des Vorabends, die er auf CNN gehört hatte, blickte zu dem Anbau hinauf und ging dann zu dem öffentlichen Platz hinüber. Dort befand sich ein leerer rechteckiger Zierteich, aus dessen Mitte einsam die Spritzdüse einer Fontäne ragte. Zwischen dem Beckenrand und einer niedrigen Begrenzungsmauer verlief ein schmaler Fußweg, der mit improvisierten Trauergaben überhäuft war. Vor allem mit Blumen, deren Stängel mit Alufolie umwickelt waren, aber auch mit Fotos in Kunststoffhüllen, kleinen Plüschtieren und Kerzen. Auf den Gehsteigplatten lag eine dünne Sandschicht. Der Sand hatte das Blut aufgesaugt, vermutete er. Für den Fall, dass sie zu Verkehrsunfällen oder Tatorten von Verbrechen gerufen wurden, hatten Feuerwehrwagen Sandkisten an Bord. Und Schaufeln aus rostfreiem Stahl zur Entfernung von Leichenteilen. Er sah sich nach dem Parkhaus um. Keine fünfunddreißig Meter , dachte er. Sehr nahe .
Reacher blieb einen Augenblick stehen. Auf der Plaza war es still. Die ganze Stadt war still. Sie wirkte wie betäubt. Die Plaza stellte das Epizentrum dar. Sie glich einem Schwarzen Loch, in dem alle Gefühle zu stark komprimiert waren, um entweichen zu können.
Er ging weiter. Das alte Kalksteingebäude war eine Bücherei. Das ist in Ordnung, sagte er sich. Bibliothekare sind nette Menschen. Sie geben Auskünfte, wenn man sie fragt . Er fragte nach dem Büro des Staatsanwalts. Die traurig und verhuscht wirkende Frau an der Bücherausgabe erklärte ihm den Weg. Er hatte nicht weit zu laufen. Dies war keine wirkliche Großstadt. Er ging an einem neuen Bürogebäude vorbei, in dem das Department of Motor Vehicles, die Zulassungs- und Führerscheinstelle, und ein Anwerbebüro der Streitkräfte untergebracht waren, und weiter nach Osten. Dahinter kamen einen Straßenblock weit Discounter und dann folgte ein neues Gerichtsgebäude: ein schlichter Zweckbau mit Flachdach, den man mit Mahagonitüren und geschliffenem Glas herauszuputzen versucht hatte. Es hätte ebenso gut die Kirche irgendeiner exotischen Sekte mit einer freigebigen, aber chronisch klammen Gemeinde sein können.
Er mied den Haupteingang, ging halb um den Block herum, bis er den Büroflügel erreichte. Dort fand er eine Tür mit der Aufschrift »Staatsanwalt«. Auf einem darunter angebrachten Messingschild las er Rodins Namen. Ein Wahlbeamter , dachte er. Der Name steht auf einem eigenen Schild, weil das billiger auszuwechseln ist, wenn der Kerl alle paar Jahre im November wechselt. Rodins Vornamen waren mit A.A. abgekürzt. Er besaß einen akademischen Grad als Jurist.
Reacher betrat das Foyer und wandte sich an die Empfangsdame an der Theke. Verlangte A.A. Rodin persönlich zu sprechen. »In welcher Sache?«, fragte sie höflich, aber ein wenig abweisend. Sie war Mitte vierzig, sehr gepflegt, mit schwarzem Rock und weißer Bluse betont schlicht gekleidet, und sah aus, als hätte sie ihr Leben lang hinter Schreibtischen gearbeitet. Eine erfahrene Bürokratin. Aber sichtlich gestresst. Sie erweckte den Eindruck, als ruhe die gesamte Last
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