Jack Reacher 09: Sniper
der nur ein sehr kleiner Teil gebraucht wurde, sodass die meisten Männer zu Hause bleiben mussten. Für ihn war das eine große Enttäuschung. Dann ist 1990 das Unternehmen ›Desert Shield‹ angelaufen. Er wurde nach Saudi-Arabien verlegt, war aber 1991 nicht an ›Desert Storm‹ beteiligt. Dieser Feldzug wurde fast ausschließlich von Panzereinheiten geführt. James Barr hat in Saudi-Arabien herumgesessen, gut aufgepasst, dass kein Sand in sein Gewehr kam, und zur Übung zweitausend Schuss pro Woche abgegeben. Als der ›Wüstensturm‹ dann vorbei war, hat man ihn zum Aufräumen nach Kuwait City geschickt.«
»Was ist dort passiert?«, fragte Rosemary Barr.
»Er hat durchgedreht«, antwortete Reacher. »Das ist dort passiert. Die Sowjetunion war zerfallen, der Irak in seine Schranken verwiesen. Er hat nach vorn gesehen und erkannt, dass der Krieg vorüber war. Er hatte fast sechs Jahre lang geübt, ohne jemals einen Schuss im Krieg abzugeben, und dazu würde es nun nie mehr kommen. Ein Großteil seiner Ausbildung hatte mit Visualisierung zu tun gehabt. Er hat sich vorgestellt, wie er das Fadenkreuz über die Medulla oblongata legt, die zwischen Rückenmark und Gehirn liegt. Wie er langsam atmet und den Abzug betätigt. Wie eine winzig kurze Pause folgt, während die Kugel unterwegs ist. Wie dann ein Wölkchen aus rosa Blutnebel aus dem Hinterkopf aufsteigt. Das alles hatte er sich vorgestellt. Unzählige Male. Aber er hatte es nie selbst erlebt. Kein einziges Mal. Er hatte diesen rosa Nebel nie gesehen. Und das wünschte er sich wirklich.«
Schweigen im Raum.
»Also ist er eines Tages alleine losgezogen«, setzte Reacher seine Ausführungen fort. »In Kuwait City. Er ist in Stellung gegangen und hat gewartet. Dann hat er vier Männer erschossen, die aus einem Apartmentgebäude kamen.«
Helen Rodin starrte ihn an.
»Er hat aus einem Parkhaus geschossen«, erklärte Reacher. »Von der zweiten Ebene aus. Dort hatte er den Eingang des Apartmenthauses genau vor sich. Die Toten waren übrigens amerikanische Unteroffiziere. Sie hatten Wochenendurlaub und haben Zivil getragen.«
Rosemary Barr schüttelte den Kopf.
»Das kann nicht wahr sein«, widersprach sie. »Ausgeschlossen! So was hätte er nie getan. Und wenn, wäre er eingesperrt worden. Aber stattdessen wurde er ehrenhaft entlassen. Gleich nach dem Golfkrieg. Und er hat den Orden für Feldzugsteilnehmer bekommen. Also kann das nicht passiert sein. Was Sie behaupten, kann unmöglich stimmen.«
»Genau deshalb bin ich hier«, erwiderte Reacher. »Bei den Ermittlungen hat’s ernste Schwierigkeiten gegeben. Sie müssen den zeitlichen Ablauf bedenken. Wir haben vier Tote aufgefunden und mussten mit unseren Ermittlungen dort ansetzen. Letzten Endes haben wir die Fährte bis zu Ihrem Bruder verfolgt. Aber er war schwer aufzuspüren, und wir sind alle möglichen Irrwege gegangen. Und bei einem davon haben wir Unangenehmes über die vier Toten erfahren. Sachen, die wir lieber nicht gewusst hätten. Weil sie Dinge getan haben, die sie nicht hätten tun dürfen.«
»Was für Dinge?«, fragte Helen Rodin.
»Kuwait City war ein modernes Eldorado. Voller reicher Araber. Selbst die nicht so Reichen hatten Rolexuhren, Rolls-Royces und Marmorbäder mit Wasserhähnen aus massivem Gold. Viele von ihnen waren vor dem irakischen Überfall vorübergehend aus der Stadt geflohen. Aber sie hatten ihren ganzen Reichtum zurückgelassen. Manche von ihnen sogar ihre Familien. Ihre Ehefrauen und Töchter.«
»Und?«
»Unsere vier toten Unteroffiziere hatten sich das Recht des Siegers herausgenommen – genau wie die Iraker vor ihnen. So haben sie die Sache gesehen, vermute ich. Wir haben sie als Raub und Vergewaltigung gesehen. An jenem Tag hatten sie in dem Gebäude, das sie eben verließen, eine Spur der Verwüstung hinterlassen. Und an anderen Tagen in anderen Gebäuden. Mit der Beute, die wir in ihren Seekisten entdeckten, hätte man eine neue Filiale von Tiffany’s ausstatten können. Nobeluhren, Schmuck und weitere Preziosen. Und Unterwäsche. Wir haben vermutet, dass sie mit den Wäschestücken den Überblick über die Zahl der Ehefrauen und Töchter behalten wollten.«
»Wie ist’s weitergegangen?«
»Der Fall hat politische Wellen geschlagen, was unvermeidlich war. Immer höhere Dienststellen haben sich mit ihm befasst. Der Golfkrieg sollte ein glänzender Erfolg für uns sein, hundertprozentig wundervoll und hundertprozentig blitzsauber. Und die Kuwaiter waren
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