Jack Reacher 09: Sniper
langen Pferdeschwanz zusammengefasst. Der ganze Schreibtisch war mit juristischer Fachliteratur bedeckt. Manche Bücher lagen aufgeschlagen mit dem Rücken, andere mit den Seiten nach oben. Auf einem gelben Anwaltsblock hatte sie sich mehrere Seiten Notizen gemacht: Querverweise, Anmerkungen, Gerichtsurteile, Präzedenzfälle.
»James Barr ist wieder bei Bewusstsein«, begann sie. »Rosemary hat mich kurz nach fünf Uhr angerufen.«
»Redet er?«
»Nur mit den Ärzten. Sie lassen noch niemanden zu ihm. Nicht einmal seine Schwester.«
»Was ist mit den Cops?«
»Die warten bereits. Aber ich muss ihnen zuvorkommen. Ich darf ihn nicht allein mit den Cops reden lassen.«
»Was sagt er zu den Ärzten?«
»Dass er nicht weiß, wo er ist. Dass er sich nicht an den vergangenen Freitag erinnern kann. Nach Auskunft der Ärzte ist das normal. Gedächtnisverlust, der sich oft auf mehrere Tage vor dem Trauma bezieht, ist bei Hirnverletzungen nicht selten. Manchmal umfasst die Lücke sogar mehrere Wochen.«
»Was bedeutet das für Sie?«
»Damit stehe ich vor zwei großen Problemen. Erstens: Sein Gedächtnisverlust könnte nur vorgetäuscht sein. Und das ist sehr schwierig nachzuweisen oder zu widerlegen. Also muss ich jetzt auch dafür einen Spezialisten finden, der ein Gutachten abgeben kann. Und wenn er nicht simuliert, befinden wir uns in einer echten Grauzone. Wie kann er einen fairen Prozess bekommen, wenn er zwar zurechungsfähig war und es jetzt wieder ist, aber keine Erinnerung an eine ganze Woche hat? Er kann nicht an seiner eigenen Verteidigung mitwirken. Wie denn auch, wenn er nicht weiß, wovon überhaupt die Rede ist? Und der Staat hat ihn in diese Lage gebracht. Er hat zugelassen, dass Barr verletzt wurde. Das ist in einem staatlichen Gefängnis passiert. Also kann die Staatsanwaltschaft jetzt nicht hergehen und ihm den Prozess machen.«
»Was wird Ihr Vater dazu sagen?«
»Er wird sich verbissen wehren. Das liegt auf der Hand. Kein Staatsanwalt darf eingestehen, dass Gedächtnisverlust das Ende eines Verfahrens bedeuten kann. Sonst würde jeder Verdächtige sich auf diese Möglichkeit stürzen, es darauf anlegen, in der Untersuchungshaft verprügelt zu werden. Plötzlich könnte sich kein Mensch mehr an irgendwas erinnern.«
»Solche Fälle muss es schon früher gegeben haben.«
Helen nickte. »Natürlich.«
»Was sagt die Fachliteratur dazu?«
»Die studiere ich gerade. Wie Sie selbst sehen. Dusky gegen die Vereinigten Staaten, Wilson gegen die Vereinigten Staaten.«
»Und?«
»Da gibt’s viel Wenn und Aber.«
Reacher sagte nichts. Helens Blick war sorgenvoll.
»Der Fall gerät außer Kontrolle«, sagte sie. »Jetzt steht ein Prozess wegen eines Prozesses ins Haus. Das ist etwas, das vermutlich bis zum Obersten Gerichtshof durchgefochten werden muss. Darauf bin ich nicht vorbereitet. Und das will ich auch nicht. Ich will keine Anwältin sein, die Leute mit verrückten Spitzfindigkeiten freibekommt. Das ist überhaupt nicht meine Art, und ich kann’s mir nicht leisten, dieses Etikett verpasst zu kriegen.«
»Dann plädieren Sie auf schuldig, und Barr soll der Teufel holen.«
»Als Sie mich letzte Nacht angerufen haben, dachte ich, Sie würden heute Morgen hier reinkommen und mir erklären, er sei unschuldig.«
»Träumen Sie nur weiter«, meinte Reacher.
Sie starrte ihre Hände an.
»Aber«, sagte er.
Sie sah wieder zu ihm auf. »Es gibt ein Aber?«
Er nickte. »Leider.«
»Welches Aber?«
»Er ist nicht ganz so schuldig, wie ich bisher geglaubt habe.«
»Wie das?«
»Holen Sie Ihr Auto, dann zeig ich’s Ihnen.«
Sie fuhren in die nur für Mieter reservierte Tiefgarage hinunter. Dort standen NBC-Übertragungswagen, aber auch Limousinen, Pick-ups und Geländewagen verschiedener Marken und Baujahre. An der Windschutzscheibe eines neuen blauen Mustang-Cabrios klebte ein NBC-Aufkleber. Vermutlich Ann Yannis Wagen, dachte Reacher. Genau richtig für sie. An freien Tagen konnte sie offen fahren, aber während der Arbeitswoche das Dach schließen, damit ihre Frisur nicht in Unordnung geriet. Aber vielleicht benutzte sie viel Haarspray.
Helen Rodin fuhr einen kleinen dunkelgrünen Viertürer, der so anonym aussah, dass Reacher ihn nicht erkannte. Vielleicht ein Saturn. Er war staubig und nicht neu. Der Wagen einer Studentin im letzten Semester: eine Übergangslösung, bis das erste Gehalt eingeht und Leasingraten erschwinglich werden. Reacher wusste alles über Leasingverträge.
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