Jack Reacher 09: Sniper
Sonne im Westen hinter mir, keine Lichtreflexe vom Zielfernrohr. Ich hätte das Beifahrerfenster runtergekurbelt und in aller Ruhe gezielt und das Magazin leer geschossen und wieder Gas gegeben. Geschnappt werden hätte ich nur können, wenn ein State Trooper mich wegen Schnellfahrens anhält und das Gewehr sieht. Aber daran hätte ich bestimmt gedacht, stimmt’s? Ich denke, ich hätte das Gewehr versteckt und wäre im Verkehr mitgeschwommen. Ich wäre nicht gerast. Wozu hätte ich riskieren sollen aufzufallen?«
Reacher sagte nichts.
»Was?«, fragte Barr. »Vielleicht hat ein Trooper angehalten, um mir zu helfen. War’s das? Als ich dort oben gestanden habe? Vielleicht hat er geglaubt, ich hätte einen Platten. Oder mir wäre das Benzin ausgegangen.«
»Besitzen Sie einen Markierungskegel?«
»Einen was?«
»Einen Markierungskegel vom Straßenbau.«
Barr wollte nein sagen, aber dann stockte er.
»Ich hab einen, glaub ich«, sagte er. »Ob er mir gehört, weiß ich nicht recht. Ich hab meine Einfahrt asphaltieren lassen. Die Firma hat einen Markierungskegel hingestellt, damit keiner auf den frischen Belag fährt. Ich musste ihn drei Tage lang stehen lassen. Aber das Ding ist nie mehr abgeholt worden.«
»Was haben Sie damit gemacht?«
»In meine Garage gestellt.«
»Steht er noch dort?«
»Ich denke schon. Ziemlich sicher.«
»Wann ist die Einfahrt asphaltiert worden?«
»Im zeitigen Frühjahr, glaub ich. Vor ein paar Monaten.«
»Haben Sie eine Rechnung dafür?«
Barr wollte den Kopf schütteln. Zuckte wegen des Drucks der Klammer zusammen.
»Das waren Gelegenheitsarbeiter«, erklärte er. »Ich glaube, sie haben den Asphalt von der Stadt geklaut. Vermutlich beim Ausbau der First Street abgezweigt. Ich hab den Trupp bar bezahlt.«
»Haben Sie Freunde?«
»Ein paar.«
»Wer sind die?«
»Ganz gewöhnliche Kerle. Einer oder zwei.«
»Irgendwelche neuen Freunde?«
»Eigentlich nicht.«
»Frauen?«
»Die mögen mich nicht.«
»Erzählen Sie mir von dem Spiel.«
»Das hab ich bereits getan.«
»Wo waren Sie? Im Auto? Zu Hause?«
»Daheim«, sagte Barr. »Ich hab gegessen.«
»Das wissen Sie noch?«
Der Verletzte blinzelte. »Ich soll versuchen, mich an die Umstände zu erinnern, hat die Seelenklempnerin gesagt. Vielleicht kommt dann noch mehr zurück. Ich war in der Küche, hab kaltes Huhn gegessen. Mit Kartoffelchips. Daran erinnere ich mich. Aber mehr fällt mir nicht ein.«
»Getränk? Bier, Saft, Kaffee?«
»Keine Ahnung. Ich weiß nur noch, dass ich mir die Übertragung des Spiels angehört habe. Ich hab ein Bose-Radio. Es steht in der Küche. Dort steht auch ein Fernseher, aber ich höre mir Spiele immer nur an. Wie früher in meiner Jugend.«
»Wie haben Sie sich gefühlt?«
»Gefühlt?«
»Glücklich? Traurig? Normal?«
Barr überlegte einen Augenblick.
»Das hat die Seelenklempnerin mich auch gefragt«, sagte er. »Ich hab normal gesagt, aber tatsächlich war ich glücklich, glaub ich. Als ob ich etwas Gutes zu erwarten hätte.«
Reacher schwieg.
»Diesmal hab ich echt Scheiße gebaut, was?«, fragte Barr.
»Erzählen Sie mir von Ihrer Schwester«, forderte Reacher ihn auf.
»Sie war erst vorhin hier. Bevor die Anwältin reingekommen ist.«
»Wie stehen Sie zu ihr?«
»Sie ist mein Ein und Alles.«
»Wie weit würden Sie gehen, um sie zu beschützen?«
»Für sie täte ich alles«, sagte Barr.
»Was heißt ›alles‹?«
»Ich bekenne mich schuldig, wenn das möglich ist. Sie wird wegziehen, vielleicht einen anderen Namen annehmen müssen. Aber ich erspare ihr, was geht. Das Radio hat sie mir gekauft. Für Baseball-Übertragungen. Geburtstagsgeschenk.«
Reacher schwieg.
»Wozu sind Sie hier?«, fragte Barr ihn.
»Um Sie zu erledigen.«
»Ich hab’s verdient.«
»Sie haben nicht vom Highway aus geschossen. Sie waren im Parkhausanbau.«
»An der First Street?«
»Nordende.«
»Das wäre verrückt! Warum sollte ich von dort aus schießen?«
»Sie haben Ihren ersten Anwalt aufgefordert, mich herzuholen. Am Samstag.«
»Wieso sollte ich das tun? Sie hätten der letzte Mensch sein müssen, den ich sehen wollte. Sie wissen, was in Kuwait City passiert ist. Weshalb würde ich das noch mal aufrühren wollen?«
»Gegen wen haben die Cards als Nächstes gespielt?«
»Keine Ahnung.«
»Versuchen Sie, sich daran zu erinnern. Ich muss die näheren Umstände genau kennen.«
»Mehr weiß ich nicht«, sagte Barr. »Ab da ist nichts mehr vorhanden. Ich erinnere mich
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