Jack Reacher 09: Sniper
er. »So wird gutes Recht fortentwickelt.«
»Ich sehe nichts Gutes daran«, meinte Helen. »Vorläufig nicht.«
»Wir dürfen auf keinen Fall zulassen, dass er vor Gericht gestellt wird. Der Staat hat fahrlässig zugelassen, dass er verletzt wurde, und will ihn jetzt vor Gericht stellen? Ausgeschlossen! Nicht, wenn er sich nicht mal an den fraglichen Tag erinnern kann. Wie soll er sich angemessen verteidigen können?«
»Mein Vater wird ausflippen.«
»Natürlich. Wir müssen ihn ausschalten. Wir müssen gleich zum zuständigen Bundesgericht gehen. Das Ganze ist ohnehin eine Menschenrechtsfrage. Bundesgericht, dann Berufungsgericht, dann Oberster Gerichtshof. So läuft der Prozess ab.«
»Das ist ein langer Prozess.«
Danuta nickte.
»Drei Jahre«, sagte er. »Wenn wir Glück haben. Ein gewisser Präzedenzfall war der Fall Wilson, und der hat dreieinhalb Jahre gedauert. Fast vier.«
»Und der Ausgang wäre völlig ungewiss. Wir könnten unterliegen.«
»Dann sehen wir uns hier vor Gericht wieder und tun unser Bestes.«
»Dafür bin ich nicht qualifiziert«, sagte Helen.
»Intellektuell? Da habe ich etwas anderes gehört.«
»Taktisch und strategisch. Und finanziell.«
»Es gibt Veteranenverbände, die mit Geld aushelfen können. Schließlich hat Mr. Barr seinem Land gedient. Ehrenvoll.«
Helen äußerte sich nicht dazu. Sah nur zu Reacher hinüber. Reacher sagte nichts. Er wandte sich ab und starrte die Wand an. Er dachte: Dieser Kerl soll wieder mit Morden davonkommen? Zum zweiten Mal?
Alan Danuta bewegte sich in seinem Sessel.
»Es gibt eine Alternative«, sagte er. »Juristisch nicht sehr aufregend, aber immerhin vorhanden.«
»Und die wäre?«, fragte Helen.
»Liefern Sie Ihrem Vater den Drahtzieher aus. Unter diesen Umständen ist ein halber Laib Brot besser als nichts. Und der Puppenspieler ist ohnehin die bessere Hälfte.«
»Würde er sich darauf einlassen?«
»Sie kennen ihn vermutlich besser als ich. Aber er wäre sehr töricht, wenn er’s nicht täte. Im Augenblick muss er mit mindestens drei Jahren Verzögerung rechnen, bevor er Mr. Barr auch nur auf die Anklagebank bekommt. Und jeder Staatsanwalt, der sein Geld wert ist, will den größeren Fisch.«
Helen warf Reacher nochmals einen Blick zu.
»Der Drahtzieher ist nur eine Theorie«, erklärte sie. »Wir haben nichts, was auch nur entfernt als Beweis für seine Existenz gelten könnte.«
»Sie haben die Wahl«, sagte Danuta. »Aber Sie dürfen so oder so nicht zulassen, dass Mr. Barr vor Gericht gestellt wird.«
»Ein Schritt nach dem anderen«, sagte Helen. »Warten wir erst mal ab, was Dr. Mason denkt.«
Dr. Mason verließ zwanzig Minuten später das Krankenzimmer. Reacher beobachtete, wie sie ihnen entgegenkam. Ihr Schritt, ihr Blick und ihre Kopfhaltung verrieten ihm, dass sie zu einer festen Überzeugung gelangt war. Da gab es keine Unsicherheit, keine Zweifel. Sie nahm wieder Platz, strich ihren Rock über den Knien glatt.
»Dauerhafte retrograde Amnesie«, sagte sie. »Ein selten eindeutiger Fall.«
»Dauer?«, fragte Niebuhr.
»Das müsste uns die Major League im Baseball verraten«, sagte sie. »Das Letzte, woran er sich erinnern kann, ist ein bestimmtes Spiel der Cardinals. Aber ich tippe auf eine Woche oder mehr – von heute an rückwärts gerechnet.«
»Dazu gehört auch der Freitag«, meinte Helen.
»Ja, leider.«
»Okay«, sagte Danuta. »Da haben wir’s also.«
»Klasse«, sagte Helen. Als sie aufstand, folgten die anderen ihrem Beispiel und gruppierten sich so um sie, dass sie – bewusst oder unbewusst, das konnte Reacher nicht beurteilen – in Richtung Ausgang blickten. Aber es war klar, dass sie Barr buchstäblich und im übertragenen Sinn hinter sich gelassen hatten: aus dem Menschen war ein medizinischer und juristischer »Fall« geworden.
»Geht schon mal voraus, Leute«, sagte Reacher.
»Sie bleiben hier?«, fragte Helen.
Reacher nickte.
»Ich will bei meinem alten Kumpel reinschauen«, antwortete er.
»Weshalb?«
»Wir haben uns vierzehn Jahre lang nicht mehr gesehen.«
Helen ließ die anderen stehen und trat dicht an ihn heran.
»Nein, weshalb«, fragte sie leise.
»Keine Angst«, entgegnete er. »Ich habe nicht vor, seine Geräte abzuschalten.«
»Das will ich hoffen!«
»Das kann ich gar nicht«, sagte er. »Ich hätte kein besonders gutes Alibi, stimmt’s?«
Helen verharrte einen Augenblick unbeweglich, schwieg. Dann gesellte sie sich wieder zu den anderen. Als sie
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