Jack Reacher 09: Sniper
gemacht hast, und dich nach mir fragen. Stell dich einfach dumm. Sag, dass ich mich nie habe blicken lassen, dass du mich nicht gesehen hast, dass du nicht weißt, wo ich stecke … so Sachen.«
Sie schwieg eine Weile.
»Du bist wütend«, sagte sie dann. »Das merke ich.«
Er nickte. Rieb sich das Gesicht, als würde er sich ohne Wasser waschen.
»James Barr ist mir ziemlich egal«, sagte er. »Hätte ihm jemand etwas anhängen wollen, damit er die Strafe bekommt, die er vor vierzehn Jahren verdient hätte, wäre mir das recht gewesen. Aber diese Sache mit dem Mädchen ist etwas anderes. Die ist unentschuldbar. Sie war nur eine niedliche, dumme Göre. Sie wollte niemandem schaden.«
»Bist du dir sicher, was die Bedrohung von Barrs Schwester angeht?«
»Ich sehe keine andere Möglichkeit, ihn zu etwas zu zwingen.«
»Aber es gibt keine Anzeichen für eine Bedrohung. Als Staatsanwältin würde ich keinen Grund sehen, daraus einen Anklagepunkt zu machen.«
»Weshalb sollte Barr das sonst getan haben?«
Hutton gab keine Antwort
»Sehen wir uns später?«, fragte sie.
»Ich habe ein Zimmer in der Nähe«, entgegnete er. »Ich komme später wieder vorbei.«
»Okay.«
»Wenn ich nicht schon im Gefängnis sitze.«
Die Bedienung kam wieder an ihren Tisch, und sie bestellten einen Nachtisch. Reacher ließ sich Kaffee nachschenken und Hutton Tee. Sie unterhielten sich weiter über willkürliche Themen, zufällige Fragen. Sie hatten vierzehn Jahre nachzuholen.
Helen Rodin durchsuchte die sechs Kartons mit Beweismaterial und stieß auf eine Fotokopie eines Zettels, der neben James Barrs Telefon gelegen hatte. Auf diesem Zettel, der praktisch sein privates Telefonbuch gewesen war, standen in sauberer, gut lesbarer Schrift zwei Namen und drei Telefonnummern. Zwei davon gehörten seiner Schwester Rosemary, eine in ihrem Apartment, die andere im Büro. Die dritte Nummer gehörte Mike. Dem Kerl aus der Nachbarschaft. Kein Eintrag für jemanden, der Charlie hieß.
Helen wählte Mikes Nummer. Nach dem sechsten Klingeln schaltete sich ein Anrufbeantworter ein. Sie hinterließ ihre Büronummer und bat wegen einer sehr wichtigen Sache um Rückruf.
Emerson verbrachte eine Stunde mit einem Zeichner, der ein ziemlich genaues Porträt von Jack Reacher anfertigte. Die Zeichnung wurde eingescannt und koloriert. Aschblondes Haar, eisblaue Augen, sonnengebräunter Teint. Als Nächstes tippte Emerson den Namen ein und schätzte seine Größe auf eins fünfundneunzig, sein Gewicht auf hundert Kilo, sein Alter auf fünfunddreißig bis fünfundvierzig Jahre. In die unterste Zeile schrieb er die Telefonnummer seiner Dienststelle. Dann mailte er das Phantombild an Dutzende von Polizeistationen und ließ den Drucker zweihundert Farbkopien ausspucken. Er wies alle Streifenwagenfahrer an, einen Packen mitzunehmen und jedem Hotelportier und Barmixer der Stadt eine Kopie auszuhändigen. Dann fügte er hinzu: auch sämtlichen Restaurants, Schnellimbissen, Imbissbuden und Sandwichläden.
James Barrs Freund Mike rief Helen Rodin um drei Uhr nachmittags an. Sie ließ sich seine Adresse geben und brachte ihn dazu, mit einem persönlichen Gespräch einverstanden zu sein. Er sagte, er sei für den Rest des Tages zu Hause. Also bestellte sie sich ein Taxi und fuhr zu ihm. Mike wohnte zwanzig Minuten von der Innenstadt entfernt in James Barrs Straße. Von seinem Vorgarten aus war Barrs Haus zu sehen. Die Häuser sahen sich ähnlich. Alle Häuser in dieser Straße sahen sich ähnlich: Ranchhäuser aus den Fünfzigerjahren, lang und niedrig. Helen vermutete, sie seien ursprünglich identisch gewesen. Aber nach einem halben Jahrhundert hatten Anbauten, neue Dächer, neue Fassaden und umgestaltete Gärten sie ziemlich verändert. Manche wirkten luxuriös, andere relativ schlicht. Barrs Haus sah abgewohnt aus. Mikes hingegen top gepflegt.
Mike selbst war ein müde aussehender Mittfünfziger, der in der Frühschicht bei einem Farbengroßhändler arbeitete. Seine Frau kam gerade nach Hause, als Helen sich vorstellte. Sie, die ebenfalls einen müden Eindruck machte und etwa so alt wie ihr Mann zu sein schien, arbeitete als Zahnarzthelferin zwei Vormittage in der Woche bei einem Zahnarzt in der Stadt. Ihr Name war Tammy, was nicht zu ihr passte. Sie schickte Helen und Mike ins Wohnzimmer und verschwand dann in der Küche, um Kaffee zu kochen. Helen und Mike setzten sich, und es dauerte ein paar peinliche Minuten, bis ein Gespräch zustande
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