Jack West 02 - Die Macht der sechs Steine
sagte Zoe und griff nach ihren eigenen Haaren. »Willst du mir meine abschneiden?«
Lily gehorchte, schnitt traurig die pinkfarbenen Spitzen von Zoes schulterlangem blondem Haar und machte zunichte, was sie beide in glücklicheren Zeiten zusammen bewerkstelligt hatten. Als sie fertig war, sah Zoe aus wie eine kurzhaarige Punkerin. »So, und jetzt wird es Zeit für eine Mütze Schlaf«, sagte Zoe. »Wizard, du hast die erste Wache. Ich übernehme die zweite.«
Während Wizard an der Hintertür Wache stand, suchte sich jeder in der abgelegenen ruandischen Kirche, in der der Gestank des Todes hing, ein Plätzchen auf dem Boden und rollte sich zum Schlafen zusammen.
Nach Luft schnappend, wurde Lily aus dem Schlaf gerissen und stellte fest, dass ihr jemand eine Hand auf den Mund gedrückt hatte.
Es war Zoe.
»Bleib still liegen. Wir stecken in Schwierigkeiten.«
Ängstlich blinzelte Lily um sich. Sie waren immer noch in der verlassenen Kirche. Alby kauerte neben ihr und wagte es nicht, auch nur einen Mucks von sich zu geben.
Wizard war nirgendwo zu entdecken. Durch ein schmutziges, zersprungenes Fenster sah Lily das blaue Dämmerlicht kurz vor Tagesanbruch.
Jemand ging am Fenster vorbei.
Es war ein Schwarzer in Tarnanzug und Helm, er trug eine Machete.
»Sie sind vor ein paar Minuten angekommen«, flüsterte Zoe.
Wizard kam neben Zoe zum Vorschein, er hielt sich geduckt. »Es sind vier, sie haben neben dem Haus einen Technical stehen.«
Ein Technical war ein in ganz Afrika gebräuchliches Fahrzeug, ein großer Landrover mit einem auf die Ladefläche montierten Maschinengewehr.
»Ihre Uniformen sind alt«, fuhr Wizard fort. »Vielleicht ehemalige Armeesoldaten, die die Regierung nicht mehr bezahlen kann, und jetzt ziehen sie vergewaltigend herum.« In der zerrissenen Ödnis, zu der Ruanda geworden war, waren marodierende Banden von Vergewaltigern an der Tagesordnung, menschliche Raubtiere, die in entlegenen Bauernhöfen und Dörfern nach Frauen und Kindern suchten. Sie waren dafür bekannt, dass sie ganze Städte terrorisieren konnten, manchmal über eine ganze Woche hinweg. Zoe spitzte den Mund, dann sagte sie: »Du nimmst die Kinder und wartest an der Hintertür. Macht euch bereit, zu diesem Technical zu rennen.«
»Zu dem Technical?«
»Ja«, gab Zoe zurück, ohne die Augen abzuwenden. »Wir brauchen sowieso einen neuen Wagen.«
Ein paar Minuten später kam der Anführer der Bande um die Vorderecke der Kirche gebogen.
Er war dünn, aber muskulös, und trug eine zerlumpte Kampfuniform mit offenem Hemd. Sein Helm allerdings war keine gewöhnliche Armeeausrüstung. Es war ein hellblauer Helm, auf dem in großen weißen Lettern »UN« stand, eine grausige Beute, die bei den ruandischen Schlägertrupps in hohem Ansehen stand. Irgendwann hatte dieser Mann einmal einen UN-Friedenssoldaten getötet.
Der Anführer der Vergewaltiger schlich auf die hölzerne Veranda der Kirche, seine Hand hielt eine Machete umklammert. »Suchen Sie was?«
Er wirbelte herum und sah Zoe im Eingang der baufälligen Kirche stehen.
Im ersten Moment war der Mann von diesem Anblick verwirrt: Eine Frau, noch dazu eine weiße! Dann kniff er heimtückisch die Augen zusammen. Auf Kinyarwanda rief er seinen Spießgesellen etwas zu.
Die anderen drei kamen von ihrem Wagen hergelaufen. Als sie Zoe sahen, bildeten sie einen Halbkreis um sie.
Zoe tappte mit dem Fuß auf den Holzboden. Das war das Signal an Wizard und die Kinder, durch die Hintertür zu verschwinden. Dann trat sie mitten in den Kreis der Vergewaltiger.
Der Anführer der Bande machte einen Satz auf sie zu, und im selben Moment schlug ihm Zoe blitzschnell an die Kehle.
Röchelnd sank der Mann auf die Knie. Jetzt griffen die anderen drei an. Zoe bewegte sich so schnell wie ein Derwisch, trat den ersten gegen den Brustkorb und brach ihm die Rippen, brach die Nase des zweiten mit einem heimtückischen Ellbogencheck und traf den dritten wie eine Baseballspielerin mit der Machete des zweiten mitten in die Weichteile. Er heulte laut auf beim Fallen.
In ein paar Sekunden war alles vorbei. Zoe stand inmitten der vier Männer, die sich unter ihr auf dem Boden krümmten.
»Ihr habt noch mal Glück gehabt«, sagte sie, während der Technical schlitternd neben ihr zum Stehen kam. Wizard war am Steuer, die Kinder saßen im Fond.
Sie nahm die Macheten der Bande und das Uniformhemd des Anführers mit, außerdem den UN-Helm. Dann sprang sie in den Technical, und im nächsten Moment
Weitere Kostenlose Bücher