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Jacob beschließt zu lieben - Roman

Jacob beschließt zu lieben - Roman

Titel: Jacob beschließt zu lieben - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Welt. Ramina meinte manchmal, es habe Wochen gedauert, bis es so weit war, aber alles glaubte ich ihr auch nicht. Nachdem die Besucher auch am zweiten Tag zahlreich erschienen waren und sich gut verpflegt hatten, wurde ihre Zahl allmählich spärlicher. Nur der Pfarrer aus der Milleniumskirche zeigte sich mehrmals täglich. Vater hatte ihn benachrichtigen lassen, damit ermich taufen würde, falls ich die ersten Stunden nicht überleben sollte.
    Vater wurde düsterer, lief mit rotem Kopf durchs Haus, und Großvater meinte, er habe ihn sagen hören: «Der Junge macht mich zum Narren.» Erst nach unzähligen Anläufen riss Ramina plötzlich die Tür zur Stube auf, wo Vater, Großvater, der Pfarrer und zwei, drei andere Besucher Karten spielten, und rief:
    «Er kommt!»
    «Darauf falle ich nicht wieder rein», murmelte Vater und blieb sitzen, doch Großvater riskierte einen Blick ins Zimmer.
    «Der Junge ist da!», rief nun auch er.
    «Wieso hört man ihn nicht schreien? Das tun doch die Kinder, nicht wahr?», fragte der Priester.
    «Hoffentlich ist er nicht tot», sagte Vater, legte die Karten ab und stand langsam auf. «Dann wollen wir mal das Wunder sehen.»
    Während Vater und Großvater ins Zimmer gingen, blieben die anderen auf der Türschwelle stehen. Der eine stellte sich auf die Zehenspitzen, ein anderer stützte sich auf die Schultern des Vordermannes. Die Vorstellung, dass ich tot sein könnte und sie ein Drama erleben würden, beflügelte ihre Phantasie. Aber ich narrte sie alle. Nicht nur, dass ich durch und durch lebendig war, sondern ich sollte sie bald so sehr erstaunen, dass sie es für Jahre nicht vergessen würden. Vater blieb hinter Ramina stehen, stand über Mutter gebeugt und hielt mich in den Armen, ohne dass er mich sehen konnte.
    «Er hatte die Nabelschnur um den Hals», sagte Ramina.
    «Ist er jetzt tot?», fragte Vater.
    «Nein, mit ihm stimmt alles. Er hat zwei Arme, zwei Beine, und auch dazwischen hat er alles, was er braucht. Nur kräftiger muss er werden.»
    «Hat er einen Mund?», fragte Vater.
    «Natürlich hat er einen», erwiderte Mutter.
    «Dann will ich jetzt endlich mal hören, was er damit tun kann. Ramina, hau ihm mal eine!»
    «Habe ich schon gemacht, gnädiger Herr, aber er will nicht weinen», sagte sie.
    «Ja, was tut er denn? Dreh dich doch mal um.»
    Ramina gehorchte und hielt mich so hin, dass alle mich sehen konnten. «Er lächelt, gnädiger Herr. Er lächelt mich die ganze Zeit an.»
    Ich schaute mich um und sah zum ersten Mal den Mann, der nicht mein Vater war, dann Großvater und alle anderen, die mich nun neugierig belagerten. Von hinten verlangte Mutter, die in Kissen und Decken gebettet war, nach ihrem Sohn. Was folgte, so Ramina, versetzte die Leute in solche Unruhe, dass sie es weitererzählten, die Temeschwarer Zeitungen es in den nächsten Ausgaben und die Ärzte in ihren Fachzeitschriften druckten.
    Ich begann, in einer solchen Lautstärke zu lachen, dass die Leute mehrere Schritte zurückwichen. Die Röcke der Frauen wurden durcheinandergewirbelt, die Schnapsgläser in der Stube zersprangen, und bis in die hinterste Ecke des Viertels blieben die Fußgänger stehen, während die Hunde alle auf einmal zu bellen begannen, als ob sie eine Katastrophe witterten. Ich lachte um mein Leben, würde Ramina später sagen. Der Pfarrer wurde bleich, als ob er einen Teufel gesehen hätte, machte das Kreuzzeichen und verabschiedete sich in aller Eile.
    Für das, was dann geschah, hatte Ramina gleich mehrereVersionen. Die häufigste war, dass Vater mich gepackt und geschüttelt, dass ich aber nicht nachgegeben hätte. «Du verspottest mich nicht, hörst du? Niemand verspottet mich!», soll er gerufen haben. Dann soll er seinen Mantel gepackt haben, in sein Auto gestiegen und Richtung Triebswetter gefahren sein. «Du warst stärker als er, Jacob. Vergiss das nicht», wiederholte Ramina jedes Mal.
    Nur mit Mühe konnten sie und Großvater Mutter davon abhalten, in die Kutsche zu steigen und ihm hinterherzufahren, um ihn zu besänftigen. Besänftigung wurde in den folgenden Jahren Mutters Geschäft. Darin wurde sie unerbittlich, fast schon wie beim Beten. Denn das Erste, was sie tat, so viel steht fest, als sie einige Tage später in Triebswetter ankam, war, sich vor das Kruzifix zu werfen, das seit Generationen im Schlafzimmer hing. Dasselbe, das sie bei den Kämpfen in der Stadt in den Schutzraum mitnehmen würde, denn wenn Mutter auf Reisen war, reiste es mit.
    Sie harrte mit

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